Test: MV Agusta Enduro Veloce
Mit der MV Agusta Enduro Veloce geht die bis vor kurzem noch umstrittene Reiseenduro mit neuem Dreizylinder in Serie. Wir konnten sie in Sardinien bereits fahren. Emotional war der dynamische Strassentest definitiv, doch wie offroadtauglich ist die aussergewöhnliche Italienerin?
An der EICMA 2021 stand bereits ein erster Prototyp von MV Agustas neuer Reiseenduro, damals mit dem Namen Lucky Explorer 9.5 mit überarbeiteten und auf 931 ccm erweiterten Dreizylinder. Später wurde das Projekt unter dem Namen LXP 9.5 weiter verfolgt.
An der EICMA 2023 wurde dann die exklusive, auf 500 Stück limitierte LXP Orioli gezeigt. Das ab 25 900 Franken erhältliche Modell schien die Lösung zu sein, um die unter der Führung des bisherigen Besitzers Timur Sardarov georderten Teile verkaufen zu können. Denn inzwischen war die KTM AG bei MV Agusta eingestiegen, die sich 2023 noch zitieren liess, dass die LXP kein Mensch brauche.
Vor knapp einem Monat hat KTM die Mehrheit von MV Agusta übernommen und Hubert Trunkenpolz als CEO eingesetzt. Nun präsentiert MV Agusta mit der Enduro Veloce eine neue Premium-Reiseenduro, die fix ins Programm aufgenommen wird und MV Agustas Rennsport-Technik ins Gelände bringt.
Rückkehr ins Gelände
MV Agusta war in den 50er Jahren bereits erfolgreich an den Six Days Enduro angetreten. Mit der Enduro Veloce kehrt die italienische Manufaktur zurück ins Gelände. Denn ihr neuster Wurf bekennt sich mit schlauchlosen Speichenrädern in den Offroad-Dimensionen 21/18-Zoll klar zum Geländeeinsatz. Dazu gibt’s vorne und hinten 210 mm Federweg mit volleinstellbaren Federelementen von Sachs.
Der komplett neu aufgebauter Reihendreizylinder der Enduro Veloce mit 931 ccm Hubraum erreicht seine Spitzenleistung von 124 PS bei 10000/min und schiebt mit einem maximales Drehmoment von 102 Nm erst bei 7000/min an. Er verfügt aber über ein breites nutzbares Drehzahlband; bereits ab 3000/min stehen über 85 Nm an.
Der Triple mit seinen Genen aus dem Rennsport verfügt über eine gegenläufig drehende Kurbelwelle, welche die Trägheit reduzieren soll, die beispielsweise auch durch die Verwendung des 21-Zoll-Vorderrads entsteht. Er ist mit einem Kassetten-Getriebe bestückt, in dem Gänge über einen bidirektionalen Quickshifter gewechselt werden können.
Weitreichende Elektronik
Die MV Agusta Enduro Veloce besitzt ein Keyless-System. Sie ist mit einer 6-Achsen-IMU und Ride by Wire-System ausgerüstet und verfügt über vier Fahrmodi: Urban, Touring, Off-Road und Custom All-Terrain. Die Traktionskontrolle hat für die Verwendung von Strassenreifen und Offroad-Reifen je 8 Einstellungsstufen und kann auf Wunsch deaktiviert werden. Der Triple besitzt eine zweistufige Motorbremskontrolle, eine Wheelie-Kontrolle und eine Launch Control. Im Custom All-Terrain Modus können zu den erwähnten Parametern auch die Gasannahme und der Motorcharakter angepasst werden.
Zudem verfügt die MV Agusta Enduro Veloce über ein Kurven-ABS inklusive Offroad-Modus, in dem die Regelung am Hinterrad deaktiviert wird. Über hinterleuchtete Lenkerarmaturen lässt sich im 7-Zoll-TFT-Display mit Smartphone-Connectivity oder eben übers Handy alles einstellen. So können mit auch alle Daten wie Gasstellung, Bremsbetätigung, G-Kräfte und Schräglagen aufgezeichnet und mit der MV Ride App übers Handy ausgelesen werden.
Angenehme Ergonomie
Die Ergonomie der Enduro Veloce passt super, gut integriert sitzt man bequem, endurotypisch aufrecht und doch fahraktiv auf der MV. Die Sitzhöhe passt in der oberen Einstellung der Sitzbank bereits ab rund 170 mm Körpergrösse perfekt. Die Bank kann aber noch 20 mm tiefer eingestellt werden, so dass auch Kleinere den Boden sicher erreichen. Für Fahrer über 185 mm dürfte die Sitzbank jedoch durchaus höher liegen.
Emotionaler Triple
Der Reihendreizylinder ist ein Erlebnis! Er beeindruckt mir viel Drehmoment unten rum und verfügt über ein breites Drehzahlband. So kann er sehr schaltfaul gefahren werden und liefert dennoch stets ordentlich Vortrieb. Mit zunehmender Drehzahl gibt er sich immer sportlicher und liess auf den kurvigen Strassen von Sardinien nie Leistung vermissen – Traktionskontrolle und Whelliekontrolle hielten die MV gekonnt in Zaum.
Die supersportliche Soundkulisse ist einmalig, hat den sprichwörtlichen Hühnerhaut-Effekt und hüpft beim Durchschalten der Gänge mit dem Blipper durch die Akkorde. Der Motor hat also nicht nur leistungsmässig einen hohen Unterhaltungswert.
Sportliches Handling
Die Enduro Veloce gibt sich im Winkelwerk agil, glänzt mit neutralem Handling und ist so sehr einfach zu fahren. Sie gibt sich stabil und zielsicher, leichtfüssig, aber nicht kippelig. Erstaunlicherweise erwies sich das 21-Zoll-Vorderrad auf der Strasse nie als nachteilig, denn die Enduro Veloce taucht willig in die Kurven ein und tendiert nicht zur weiten Linie.
Das Fahrwerk verfügt über eine vergleichsweise straffe Strassenabstimmung, so dass die Front, wenn sich die Brembo Stylemas in den ausgewachsenen Bremsscheiben verbeissen, nicht zu stark eintaucht. Das sorgt zusätzlich für ein klares Feedback und schenkt viel Vertrauen.
Und so waren wir auf den griffigen Strassen im Süden Sardiniens dann auch zügig unterwegs. Dabei glänzte die MV Agusta Enduro Veloce mit beachtlicher Schräglagenfreiheit. Die wird aber nicht durch die klappbaren Offroad-Fussrasten begrenzt, denn links setzt der rahmenfesten Seitenständer als erstes auf. Der könnte problemlos höher stehen, was am Pressetest notiert wurde und vor der Auslieferung in der zweiten Mai-Hälfte als Anpassung hoffentlich noch in die Serienproduktion einfliesst.
Enduro Veloce im Gelände
Die Ergonomie der MV Agusta Enduro Veloce passt auch in den Rasten stehend sehr gut. Der Knieschluss fällt angenehm eng aus und der Lenker befindet sich in passender Position, um das Motorrad im Gelände leicht und aufrecht dirigieren zu können. Und auch das Handling passt im Gelände ausgezeichnet. Die vollgetankt 245 kg schwere Italienerin gibt sich auch hier überraschend agil.
Die fürs Gelände vermeintlich überdimensionierte Bremsanlage mit sportlichen Brembo Stylema Vierkolbenzangen sind auch auf losem Untergrund über die radiale Geberzylinder präzise dosierbar. Mit Unterstützung des Offroad-ABS wirken sie durchaus vertrauenerweckend.
Heikles Spiel mit dem Grip
MV Agustas sportlicher Reihendreizylinder zeigt sich im Gelände allerdings nicht wie auf der Strasse von der gutmütigen Seite. Verliert das Hinterrad am Gas mit ausgeschalteter Traktionskontrolle den Grip, dreht der Triple rasant hoch. Mit der Strassenbereifung lässt die Seitenführung dann massiv nach und es dauert lange, bis das Hinterrad wieder Grip findet. Driften wird so sehr heikel und ist nicht so spassig. Also stellte ich auf losem Untergrund die Traktionskontrolle wieder auf Stufe 1 zurück. So waren kleinere Drifts möglich, bei denen der Grip jedoch nie ganz verloren ging. Grössere Drifts wollte ich mit dieser Motorcharakteristik mit Strassenreifen eh verhindern. So liess sich dennoch entspannt Endurowandern.
Am Nachmittag konnten wir im Gelände eine Enduro Veloce mit Offroadbreifung und Enduroabstimmung fahren. Da wuchs das Vertrauen auch ohne Traktionskontrolle. Das Lenken mit dem ausbrechenden Hinterrad blieb aber zumindest bei langsamen Tempi heikel.
Die MV Agusta ist durchaus geländetauglich für den dynamischen Offroad-Ritt mit ihrer Motorcharakteristik aber nicht ideal. Eine Traktionskontrolle, die etwas mehr Schlupf zulässt würde da den Spassfaktor definitiv erhöhen.
Exklusive, sportliche Reiseenduro
Die MV Agusta Enduro Veloce hat auf Asphalt überzeugt und sehr begeistert. Sie ist kein Leichtgewicht fühlte sich aber nie schwerfällig an und überzeugte mit vertrauenerweckender Agilität. Sie ist auch durchaus geländetauglich, ihr Dreizylinder verliert offroad aber klar an Effizienz, Beherrschbarkeit und Unterhaltungswert. Gemütlichen Ausfahrten auf losem Untergrund steht allerdings nichts im Wege.
Die MV Agusta Enduro Veloce ist schwierig einzuordnen, denn sie ist einzigartig und hat damit eigentlich keine direkte Konkurrenz. Mit ihrem begeisternden Triple, ihrem Design in Ago Rot und Ago Silber wird sie dem Exklusivitäts-Ansprüchen von MV Agusta definitiv gerecht. Der Preis von 21 500 Franken ist hoch angesetzt aber dennoch nicht überrissen. Die exklusive Italienerin, von der noch dieses Jahr rund 1000 Stück die Produktionshalle in Schiranna verlassen sollen, ihre Käufer finden. 4 Jahre Werksgarantie sogen dabei auch für das nötige Vertrauen in die Technik.
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