Paris Match – 400 Kilometer Stausurfen
Genug von der tempogemässigten, lustfeindlichen und naturtrüben Tugendgesellschaft? Dann auf zum Stausurfen auf die Périphérique!
Die Symptome nach 400 Kilometern kreuz und quer durch Paris sind eindeutig: totale Euphorie, beschleunigter Puls, glasige Augen, erhöhter Speichelfluss. Als wir es gegen Mitternacht am Camping in Versailles ausrollen lassen, ist unsere Motorradwelt definitiv nicht mehr dieselbe: Ein zwei Gläser Rotwein dauerndes Manifest räumt auf mit unseren schweizerischen Gepflogenheiten, mündet schliesslich in der Einsicht, dass auch Unsicherheit die Sicherheit erhöhen kann. Der Pariser Stau auf dem Töff zeigt ein scheinbares Paradoxon auf und lässt erkennen, wie einfach ein Miteinander im Strassenverkehr doch sein könnte. Wo es weniger Regeln gibt, da sind die Leute wachsamer.
«Paris ist ein Fest fürs Leben, eine Stadt der Höhepunkte, in jeder Hinsicht», schrieb einst Ernest Hemingway. Wie oft ich die Stadt an der Seine schon besucht habe? Ich glaube neun Mal. Doch dieser Trip ist anders. Diesmal bin ich zusammen mit dem Redaktionskollegen Dimitri und der Test-Assistentin Karin einem Rätsel auf der Spur: Immer, wenn es um Motorradspass geht, denkt man ja unweigerlich an gewundene Pass- und Landstrassen. Aber das hier? Urlaub nehmen, nur um ein, zwei Tage in einer verstopften Stadt durch den Stau zu braten? Wie verrückt ist das denn? Wahrscheinlich hat sich jeder schon einmal vorgenommen, Paris zu besuchen, um so wie alle die unzähligen aufregenden Attraktionen und Sehenswürdigkeiten zu bestaunen: Die verschwenderisch angelegten Plätze und Boulevards mit ihren grosszügigen Bürgerhäusern oder den Luxus, den man Pariser Flair nennt. Künstler, Schwärmer, Verliebte, Provinzler und Einwanderer aus aller Welt suchen hier ihr Glück, in diesem menschlichen und kulturellen Schmelztiegel. Und jetzt halt auch noch drei besessene Töfffahrer aus der Schweiz.
Ein bisschen Anarchie schadet nie
Von wegen «Mobilität braucht Stillstand, weil sonst könnt ja was passieren». Wir sind definitiv angekommen, Paris ist nicht Zürich – an der Seine fahren sie noch immer alle wie die Henker. Am sichersten scheint es da doch für Kreti und Pleti, gar nicht erst in die gefährliche City zu fahren, sondern lieber gleich zu Hause zu bleiben, gell? Nun, der Slow-down-take-iteasy- Sticker auf dem Topcase wird einem hier bestimmt nicht weiterhelfen, denn an diesem Ort bezweifelt niemand, dass man die gefährliche Phase vor dem Tod Leben nennt. Und Paris ist halt wie das Leben: überschäumend, geistreich, dumm, widersprüchlich, lärmend und romantisch zugleich. Über 130 Nationalitäten bilden hier zusammen einen aufregenden Mix. In unzähligen Bistros und Cafés kann man herrlich in die Lebensfreude dieser Stadt eintauchen. Oder so wie wir im dröhnenden Verkehrschaos, im Smog der Millionenmetropole und der Tristesse der Problembezirke der Trabantenstädte, der Banlieues. Hier prägen Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung und Gewalt den Alltag. Bei nächtlichen Ausschreitungen, die sich über Wochen hinzogen, zündeten Strassengangs 2005 Tausende Autos und Hunderte Gebäude an. Nun, dort wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit… das postulierte schon Montesquieu, ein Philosoph und Vordenker der französischen Revolution.
Trotz dieser Erkenntnis fädeln wir uns anstatt durch die menschenfeindlichen Hochhaussiedlungen lieber entschlossen durch das andere, besser gelungene Multikulti der Weltmetropole: durch quirlige Gassen, vorbei an fein riechenden Boulangeries, Cafés, duftenden arabischen, chinesischen und indischen Läden. In Paris braucht man keinen Pass, um auf Entdeckungsreise der Weltkulturen zu gehen. Die Seine-Metropole bietet die Welt in Stadtform. Fantasievoll, leicht morbide, laut, schön und manchmal schmutzig ist das Paris der Araber, der Afrikaner, der Asiaten. Die Viertel Goutte d’Or, Barbès und Belleville beispielsweise stehen für das Schwarzafrika an der Seine. Farben handhabt man hier ebenso hemmungslos wie laute Musik.
Um Couronnes und Belleville herum befindet sich das arabische Viertel. Die Strassen, wo sich die Zweiräder zwischen den Autos durchschlängeln, und wo sie, wann immer möglich, illegal auf Bus- und Taxispuren ausweichen, tragen hier Namen wie Oran, Tombouctou oder Suez. Fladenbrot, Couscous, Harissa und frische Minze, Datteln mit Marzipan, Baklawa und Makroud werden wild durcheinander auf den improvisierten Auslagen vor den Geschäften angeboten. Das Chinatown der Stadt schliesslich befindet sich im sogenannten Triangle d’Or, das von der Avenue Choisy, der Avenue Ivry und der Rue de Tolbiac im 13. Arrondissement eingerahmt wird. Und die Rue Faubourg Saint-Denis zwischen dem Bahnhof Gare du Nord und der Metrostation La Chapelle bringt uns ins Herz des indischen Viertels. Man bekommt hier Chicken Tikka, Räucherstäbchen, Saris und Massageöle. Das hier ist mit Sicherheit nicht das Paris der Touristen.
Das hier schon: So zeigt Paris jenes Gesicht, mit welchem in Reiseführern immer geworben wird und das man ebenfalls nicht verpassen sollte. Der Eiffelturm, das Symbol der Stadt; der Triumphbogen, das Symbol der Republik schlechthin (übrigens: der gefühlt 10-spurige Kreisverkehr am Arc de Triomphe hat es selbst für die abgebrühten Pariser Motards echt in sich, genauso wie der am geschichtsträchtigen Place de la Bastille), das Centre Pompidou…und so weiter und so fort. Um die Metrostation Blanche herum blüht das Sexgewerbe, und mittendrin steht das Moulin Rouge, das mit seinen Erotik-Shows zu einer der beliebtesten Touristenattraktionen zählt.
Der Pariser City Blues
Ein strahlend blauer Frühlingshimmel wölbt sich über Paris. Grob 400 Kilometer kreuz und quer durch die Seine-Metropole stehen auf dem Fahrplan – unser Pariser Töff-Match müsste in zwei Tagen zu machen sein. Verrückt? Mag sein. Leichtsinnig? Was ist leichtsinnig? Vor Jahren fuhr ich mit einem Motorrad durch die Sahara. Gut, vernünftig wäre es, die Metro zu benutzen. Dann verschluckt einen die Erde und spuckt einen woanders wieder aus. Man sieht nichts, riecht nichts und erlebt nichts. Und wer verzichtet in so einer aufregenden Stadt schon aus Vernunftgründen aufs Motorrad? Hier, wo werktags angeblich jeder Vierte ein Zweirad für den Arbeitsweg benutzt. Selbst vor den Ministerien parken dicke Roller, und vor der Börse fährt man gerne im Nadelstreif auf Ducatis und BMWs vor. Ohne Zweifel, Paris ist eine Motorradstadt, und dahinter steht ein authentisches Lebensgefühl – und ökonomischer Zwang. Geklaut wird hier, was das Zeug hält. Mit einem mickrigen Bremsscheibenschloss hat man schlechte Karten. Jeder Motard hat hier eine Ankerkette à la Queen Mary im Topcase. Sofern man den Töff irgendwo über Nacht zwischen die parkenden Autos quetschen muss, ist ein unauffälliges rostiges Bike also die beste Wahl. Showbikern mit teuren Supersportlern und protzigen Tourenkoffern sei an dieser Stelle nicht bloss wegen der Langfinger unser volles Mitgefühl ausgedrückt.
Auch in der Pariser Rushhour seid ihr ziemlich schnell verschwunden. Im Tiefflug schnupfen euch reihenweise die Motards auf ihren Brot-und- Butter-Töff, Scootern und sogar Mofas auf. Und tschüss, ihr Lieben! Vergessen wir also das ganze Theater um vermeintliche Motorrad- Ikonen und Prestigebringer. 180 PS? Blödsinn! Auch die Stelle hinterm Kommainteressiert hier kein Schwein. In Paris zählen andere Werte. Wir reden vom grossen Ganzen, von der urbanen Lust am Leben auf zwei Rädern an sich. Man schätzt Motorräder, die beim U-Turn das Leben nicht zur Hölle werden lassen. Leicht zu fahren sollen sie sein und praktisch. Ein hochpräzises Skalpell für die «Operation Stadtverkehr». Bei roter Ampel auf die Pole-Position vorfahren, bei Grün mit einem fetten Grinsen vorneweg düsen, und dort, wo man sich damit nicht durchschlängeln kann, ist selbst zu Fuss kein Weiterkommen mehr möglich. «Motard sein statt fettes Motorrad haben», heisst die Devise. Und genau darum ist Töfffahren in Paris auch ein Heidenspass. Weil man es nicht nötig hat, einem platten Image nachzujagen, eine Lebensart zu imitieren oder gar den Rossi zu spielen. Wenn man in Paris wie ein Verrückter fährt, dann einfach, weil man tatsächlich einen an der Waffel hat oder weil es halt eilt und nicht, weil man etwa andere beeindrucken will.
Guerillas auf der Périphérique
Rauf, runter, rauf… und weil’s so schön war, gleich nochmal! So also sieht sie aus, die Wollust der wirklich angefressenen Töfffahrer: Hier, auf der 35 Kilometer langen, überfüllten Ringautobahn rund um Paris, der Périphérique, da findet man sein Exil vom bekifften Schleichengel Franky und seiner Via-Sicura-Verrichtungsbox. Hier, im Stop-and-Go der Périphérique, da pfeifen die Motorradfahrer noch ausgelassen auf obrigkeitsstaatliche Generalanweisungen. Die Mona Lisa im Louvre kann deshalb auf uns warten, und auch der Ausblick vom Eiffelturm. Sightseeing und Kultur hat ja – bei allem Respekt – stets auch etwas Träges.
Vor unseren Visieren flimmert stattdessen hitzig die Abwärme Tausender Motoren. Ein Hauch von Anarchie liegt in der Luft. Höchste Zeit also, alle Sinne fürs stürmische urbane Guerilla-Cruising scharfzustellen. Es stinkt nicht hier, es duftet! Nach Benzin! Fast alle französischen Autobahnen münden aus allen Himmelsrichtungen in diese herrliche Töff-Arena: die A1 von Lille, die A4 von Strassbourg, die A5 von Troyes, die A6 von Lyon, die A77 von Nevers, die A10 aus Orléans, die A13 aus Rouen und die A16 aus Amiens. Der Mythos illegaler Rennen haftet der Ringautobahn bis heute an, aber dieWettfahrten sind längst passé. Die Schnellsten und Idiotischsten, was zu Zeiten des Schwarzen Prinzen dasselbe war, rasten früher in zehn bis elf Minuten über den Ring. Nun ist die Périphérique verwanzt, und bisweilen lauern die Flics auf den Brücken, die Laserpistole im Anschlag. Trotzdem arbeiten sich die Motards noch immer ungerührt und schneller, als die Rennleitung erlaubt, mitten durch den Stau.
Paris Match! Go, go, go!
Zunächst heisst es einfädeln, den Blick weit voraus auf die Lücken im Verkehr und nicht auf die Hindernisse richten. Abrupte Spurwechsel sind im Paris Match absolutes No-go. Dann zirkelt man als Stadtguerilla- Novize vorsichtig zwischen den Bürgerkäfigen durch, während die verrücktesten Pariser Motards, auch wenn links und rechts des Lenkers nur noch eine Handbreit Platz ist, hemmungslos den Stau von hinten aufrollen. Ein paar wilde Spurwechsel ohne übertriebene Rücksicht auf die Autos und einige Spurts durch ein paar ganz enge Spurgassen kommen da als Ausdruck der puren Freude gratis dazu. Keine Angst, man hört, was da kommt. «Loud Pipes save Lives» – in Paris ist das kein Spruch. Und dann heisst es: Platz da für die im Rückspiegel auftauchende Brülltüte! Die Blechdosenfahrer auf der linken Spur fahren eh schon ganz links, die auf der mittleren ganz rechts auf ihrem Fahrstreifen. So entsteht dieses kleine, aber zügellose Töff-Biotop. Und genau da presst man sich zusammen mit der ganzen Pariser Spassgesellschaft durch. Cool, Man! Aber Vorsicht: Bald scheint es, als würde man durch den Stau fliegen. Der Flow! Eine trancehafte, totale Konzentration auf das Motorrad, die Lücke und das Geschehen. Alle Bewegungsabläufewerden nun mühelos erledigt. Jetzt heisst es das Gas bewusst zurücknehmen und keinesfalls weiter steigern!
Und die Moral von der Geschicht…
…die gibt es nicht. Oder vielleicht doch? Wir Schweizer betreten diesen turbulenten Raum und haben gleich das Bedürfnis, Ordnung ins Chaos zu bringen, dem Ganzen im Namen der Sicherheit Struktur zu geben und deshalb den gesamten Pariser Verkehrswahnsinn zur Hölle zu wünschen. Lassen Sie es! Was zunächst nur nach Chaos und Gewimmel aussieht, ist irgendwie eben doch nach Regeln organisiert. Glaubt man einer niederländischen Studie, helfen unordentliche Umgebungen dabei, klarere Gedanken auf das Wesentliche hervorzubringen. Es scheint zu stimmen: In Paris passt jeder auf jeden auf, keiner macht die Faust im Sack, und selbst die Polizei schaut dem Treiben meist nur zu. Zum richtigen Leben gehört halt auch die Eventualität, sich impulsiv verhalten zu dürfen – sofern man niemand gefährdet. Man darf sich natürlich ob dieses real existierenden Paralleluniversums zum heimischen Stop-schlägt-Go ungläubig die Augen reiben. Das hilft aber nix, man sollte diese lieber offen halten und den Blinker nicht vergessen. Aber kein Grund zur Sorge: Auf die Idee eines solch kreativen Miteinanders im Gubrist-Stau käme bei uns eh keiner. Zu vieleVerbote tragen dazu bei, jedwede situationsangemessenen, autonomen Entscheidungen im Keim zu ersticken. Da bleibt mir nach der Rückkehr zum Seelentrost nur noch eins. Nämlich die Endstufe meiner Stereoanlage zu verheizen: «Non, je ne regrette rien…!». Oh je, was muss ich mir nach dieser politisch unkorrekten Story ausser der Piaf jetzt wohl noch so laut anhören – von wegen Vorbild, Sicherheit und so…?
Reiseinfos Paris
Anreise: Wer wenig Zeit hat, sollte ab Mulhouse über die A36 bis Belfort, die N19 bis Langres und dann auf die A5. Autobahnen in Frankreich kosten Gebühren, die an Kassenhäuschen bezahlt werden. Eine schöne Töfftour nach Paris gibt’s als Download unter www.toeff-magazin.ch
Tempolimits: Autobahnen 130 km/h, Schnellstrassen 110 km/h, Landstrassen 80 und 90 km/h, innerorts 50 km/h.
Geführte Vespa-Tour: www.getyourguide. com, Suchwort «Paris, Vespa».
Unterkunft: Übernachten kann zu einem sehr teuren Vergnügen werden. Hauptsächlich verfügen nur Hotels der mittleren bis oberen Preisklasse über sichere Parkplätze. Pensionen sind rar, und Appartements finden sich fast keine. Töff-Tipp: Huttopia Camp in Versailles. Zu mieten gibt es chaletähnliche Zelte mit Holzofen und Bettzeug. Internet- Adresse: www.huttopia.com Detaillierte Stadt-Infos: Jede Menge Hoteladressen, Informationen zu den Sehenswürdigkeiten, Metroverbindungen und zur Stadtgeschichte finden Sie unter www.parisinfo.de
Der Pariser Circuit Carole
Den Namen Carole hat der 2055 Meter lange und neun Meter breite an der A1 gelegene Rundkurs von einer tödlich verunglückten Motorradfahrerin. Die 1970er-Jahre waren eine wilde Zeit für die Pariser Motorradszene. Man traf sich zu Hunderten am Place de la Bastille oder in seiner näheren Umgebung. Die Folge: Es wurden tagtäglich illegale Rennen ausgetragen. Vor allem der Grand Marché de Rungis wurde an den Wochenenden zum Ausgangspunkt von vielen Geschwindigkeitsexzessen mit zahlreichen Toten. Deshalb wurde 1979 der Circuit gleichsam als eine sozialpädagogische Einrichtung für speedabhängige Pariser Motards gebaut, um sie von diesem Tun auf öffentlichen Strassen abzuhalten. Fahren kann man auf dem Circuit, so wie wir während unseres Vergleichstests, gratis, sodass an den Wochenenden reger Andrang herrscht. www.circuit-carole.com
Beitrag von Michael Kutschke aus der Ausgabe 04/2014 vom TÖFF-MAGAZIN. Fotos: Alex Krassovsky, Michael Kutschke https://www.moto.ch/voll-was-am-helm-in-frankreich/ Ein-Frankreich-der-zwei-Geschwindigkeiten