Ducati Panigale V4 R im Test
Gewisse Erlebnisse wird man in seinem Leben nie vergessen: den ersten Beischlaf, den Einzug ins Eigenheim, das erste Kind … und als einer von weltweit 12 Journalisten den Meilenstein Ducati Panigale V4 R testen zu dürfen.
Heute, an diesem 30. November, bin ich einer von weltweit lediglich 12 geladenen Journalisten, welche die super-exklusive, für 41 490 Franken erhältliche Ducati Panigale V4 R testen dürfen. Auf dem Programm stehen vier Mal 15 Minuten auf dem GP-Kurs von Jerez. Ich bin mir der Tragweite des in Box 2 für mich bereitstehenden Bikes durchaus bewusst, läutete die Panigale V4 Anfang 2018 bei den Ducati-Superbikes doch einen Paradigmenwechsel ein weg vom dogmatischen V2- und hin zum MotoGP-erprobten V4-Aggregat. Tatsächlich geht mit dem «Desmosedici Stradale» genannten V4-Reaktor eine 30-jährige V2-Ära zu Ende, in der von 851 über 916 und 1098 bis hin zu Panigale in der (faktisch dominierten) Superbike-WM insgesamt 14 Fahrer- und 17 Konstrukteurstitel eingefahren werden konnten.
Damit ist nun definitiv Schluss, wobei sich das Ducati-Werksteam mit den Fahrern Chaz Davies und Alvaro Bautista ab 2019 nun ebenfalls auf den 90-Grad-V4-Motor freuen darf (bis Dato wurde ja noch mit dem V2 gefahren). Und der Homologations-Basis für den Werksrenner werden wir heute die Sporen geben.
Nur das Feinste vom Feinsten
Weil in der Superbike-WM der Hubraum reglementarisch mit 1000 ccm nach oben gedeckelt ist, wurde der Desmosedici Stradale für den Einsatz in der V4 R von 1103 auf 998 ccm gebracht. Erstaunlich ist nun, dass trotz 105 ccm kleinerem Antrieb und gleich bleibender Verdichtung eine signifikante Steigerung der Spitzenleistung vorliegt. Sie beträgt hier 221 statt 214 PS und steht bei Schwindel-erregenden 15 250/min an (Begrenzer bei 16 000/min!). Wie das? Nun, durch Ingenieurskunst und das Verbauen von High-tech-Komponenten sowie -Werkstoffen. So kommen etwa Titan-Pleuel zum Einsatz; jedes 100 g leichter als die Stahl-Pendants der V4. Die geschmiedete Kurbelwelle wurde um ganze 1,1 Kilo erleichtert, und die Schmiedekolben verfügen jeweils über lediglich einen Kompressions- und Ölabstreifring, was die innere Reibung reduziert und so ebenfalls der Drehfreude zugutekommt.
Parallel wurde dafür gesorgt, dass der R-V4 gerade bei hohen Drehzahlen raue Mengen an Zunder zugespielt bekommt. Denn der Druck aus der Mitte (112 statt 124 Nm) ist bei einem kompromisslos für den Rennstreckeneinsatz optimierten Racer zweitrangig. Die elliptischen Drosselklappen sind im Rundquerschnitt-Äquivalent 4 mm grösser und zudem strömungsoptimiert. Sie atmen durch optimierte variable Einlassschlunde sowie einen hochdurchlässigen Rennluftfilter und führen durch vergrösserte Ansaugkanäle vorbei an Nockenwellen mit gesteigertem Hub zu den Titan-Einlassventilen.
Im stärksten Ducati-Motor aller Zeiten steckt also schon mal jede Menge genuiner Renntechnik. Wer es nun aber wirklich wissen will, ordert die Ducati-Performance-Auspuffanlage von Akrapovic, die der V4 R astrale 234 PS und damit ein Leistungsgewicht von 1,25 PS pro Kilo (statt 1,14) entlockt. Das ist ziemlich genau die Topleistung von Loris Capirossis MotoGP-Renner aus dem Jahr 2003. Das fahrfertige Gewicht reduziert sich mit der Akrapovic-Anlage, die mit entsprechenden Elektronik-Mappings geliefert wird, von 193 auf 186,5 Kilo (fahrfertig!).
Unterwegs auf edlem Schuhwerk
Auch beim Fahrwerk mit fast identischer Geometrie gingen die (Ducati Corse) Ingenieure aufs Ganze: Der Rahmen ist nicht nur leichter, sondern (dank mittels MotoGP-Know-how maschinell ausgesparten Seitenteilen) flexibler gestaltet, was speziell am Kurveneingang Vorteile bringen soll. Richtig «Racing» ist, dass der Schwingendrehpunkt in vier Positionen justiert werden kann, sodass die R noch besser an den individuellen Fahrstil oder spezielle Streckenlayouts angepasst werden kann. Anstelle des semiaktiven Öhlins-Fahrwerks der S kommen an der R «konventionelle» Federelemente zum Einsatz. Wobei die druckunterstützte NPX-25/30-Gabel mit TiN-Beschichtung (Öhlins) alles andere als konventionell ist, sondern viel mehr edelster Rennware entspricht. Gleiches gilt für das TTX36-Federbein und den ebenfalls regulierbaren Lenkungsdämpfer.
Ein besonderes Augenmerk gilt dem bei der V4 R serienmässigen «Aero Pack» von Ducati Corse: Der komplett neue Verschalungskit gibt der Primadonna optisch nicht nur eine bestialische Note, er schützt den Fahrer auch deutlich besser vor Fahrtwind, steigert via Winglets den Abtrieb und optimiert zudem die Kühlung.
Bleibt die Elektronik. Weil bereits die V4 S von Kurven-ABS über Launch-Control, Traktions-, Wheelie-, Bremsrift-, Powerslide- und Motorbrems-Kontrolle bis hin zum bidirektionalen Quickshifter alles bietet, was es an Assistenzsystemen gibt, sah man in Bologna keinen direkten Handlungsbedarf. Wenngleich die Algorithmen der jeweils auch in Fahrt via Lenkertaster regulierbaren und in die Modi «Street», «Sport» und «Race» integrierten Assistenzsysteme noch stärker hinsichtlich eines kompromisslosen Rennstreckeneinsatzes optimiert wurden. Speziell, die neu mit einem prädiktiven Algorithmus und damit schneller wie auch sanfter arbeitende Traktionskontrolle. Ganz neu sind der Pit-Limiter und der GPS-gestützte Lap-Timer, der nicht nur die Rundenzeiten automatisch erkennt bzw. misst (und im 5-Zoll-TFT-Display anzeigt), sondern auch zwei Sektionszeiten speichern und im Display anzeigen kann.
Es geht los!
Erster Turn! Die Piste ist noch «halbnass», weshalb wir auf Regenreifen und im «Sport»-Modus rausgelassen werden. Und sieh an, sieh an: Wir fahren nicht etwa die «Standard-R», sondern die Akrapovic-Version. 234 PS. Also los! Die Traktionskontrolle ist permanent in Arbeit, die Farbe Gelb dominiert im TFT-Display. Vor mir öffnet sich die Gerade runter Richtung «Dry Sac» – Vollgas! Die R dreht, einmal von den Fängen der Traktionskontrolle befreit, wie vom Affen gebissen hoch, und ab 10 000/min befördert einen der Boost mit einem mächtigen Tritt aus der Szenerie. Bis in den sanft einsetzenden Begrenzer schiesst die «digitale Drehzahlmesser-Nadel» hoch wie ein unter Starkstrom stehender Scheibenwischer. Aber: Die R ist deswegen nicht eine brachiale und kompromisslose Furie. Nein, sie gibt sich eigentlich überraschend zugänglich, sprich, ein erfahrener Pilot wird schon früh die volle Power ausspielen können. Nicht zuletzt, freilich, dank den hervorragenden Assistenzsystemen. Nur auf der Geraden habe ich mit der V4 R zu kämpfen. Da schaukelt sich die Front nämlich ziemlich arg auf, sodass ich vom Gas muss, um ein Lenkerschlagen zu verhindern. Meine Vermutung: Die Regenreifen und das softer abgestimmte Fahrwerk sind schuld.
Und ich hatte Recht. Im zweiten Turn, der im «Race»-Modus» mit SC1-Pirelli-Slicks auf trockener Strecke gefahren wird, ist von der besagten Unruhe kaum mehr was zu spüren. Was nicht heisst, dass man am Kurvenausgang unbedacht den Gaszug auf Anschlag drehen sollte. Denn die «Erre» bleibt ein sensibles Hochpräzisionsinstrument mit dem Antritt eines Flugzeugträger-Dampfkatapults. Einfach sauber in die Rasten stehen, viel Gewicht nach vorne bringen und den Lenker möglichst sanft «führen» – dann passt es so weit.
Apropos Präzision: Konzentrieren wir uns jetzt auf die Bremszone. Der härteste Bremspunkt in Jerez ist sicher nach der langen Geraden vor Dry Sac. Wer hier den Brembo-Stylema-Anker auswirft, wird kurzum in eine neue Dimension der Bremsperformance geschleudert: Die 330er-Anlage vorn arbeitet in allen Dimensionen dermassen souverän, dass es einen fast die Tränen in die Augen drückt. Die Verzögerung ist galaktisch, und man kann kaum fassen, wie arg bzw. effizient sich diese Duc bis hin zum Kurvenscheitel «zusammenbremsen» lässt. Oft denkt man, es wäre noch einen Tick später und härter gegangen. Sicher ist dies auch ein Verdienst der echt heroischen Bremsstabilität, wobei das Aero Pack definitiv seine Wirkung zeigt und zudem einen makellosen Windschutz bietet. Auch die Rutschkupplung, die einen phänomenal viel Arbeit abnimmt, trägt ihren Teil zur eisernen Verzögerungsstabilität bei. Die Dosierbarkeit der Stopper? Ich würde sagen unerreicht. Und dann dieses Feedback, das ebenfalls einer Offenbarung gleichkommt. Jedes Asphaltkorn spüre ich hinten in der «Angel Nieto», und wenn ich die Linie etwas korrigieren will, dann ist die «Erre» – präzis wie ein Scharfschützengewehr – jederzeit voller Elan mit von der Partie.
Dieses Bike ist quasi materialisiertes Vertrauen. Nicht zuletzt, weil in allen relevanten Dimensionen ein ausgesprochen breiter Grenzbereich vorliegt. Und dieser Charakterzug schlägt auch am Kurvenausgang voll durch. Nicht nur, dass die Linie – ob weit oder eng – bei beflügelndem Handling quasi nach Belieben variiert werden kann; es ist die zugängliche Handhabung der schieren Power, die eine Welt mit 234 PS auch für Normalsterbliche spassbringend erfahrbar macht.
Kurve 4 ist durchaus ein Pflaster, auf dem Mut gefragt ist. Und als würde ich auf einem 120-PS-Bike sitzen, spanne ich am Ausgang mehr oder weniger unbekümmert den Gaszug, wobei sich die R leicht quer stellt und den Rest via Traktionskontrolle für mich erledigt. Unglaublich, in welche Sphären die Regelelektronik inzwischen vorgedrungen ist. «Sito Pons», die nächste Rechts, wird hart angebremst, und ich stelle fest, dass ich die Curbs beim letzten Turn voll in die Rechnung miteinbeziehe. Im Flow fliege ich um den Kurs, die Rundenzeiten purzeln. Auch die Wheelie-Kontrolle macht einen magistralen Job. Und zwar insofern, als sie einen (wie die Traktionskontrolle) nicht einbremst. Das Vorderrad steigt zwar leicht, das frisst jedoch keine Zeit und ist erst noch Trumpf für eine gute Stilnote. Was für ein Erlebnis!
Conclusione
Die V4 R hat ihren Preis, aber sie ist von allen Grossserien-Bikes, die wir je gefahren sind, sicher jenes, das am nächsten an einem echten Rennmotorrad dran ist. Der Motor ist bombastisch, Fahrwerk und Bremsen sowieso. Und die Elektronik sorgt dafür, dass die krasse Power für Normalsterbliche auch nutzbar wird. Dennoch empfehlen wir die R erfahrenen Piloten. Denn am Kurvenausgang sollte man hier – trotz Vollassistenz – schon wissen, was man tut.
Info: www.ducati.ch