ROLLENTAUSCH?
Grossartiger Tom Lüthi (3.), Zauberlehrling Jesko Raffin (13.) und «Desperado» Dominique Aegerter (14.). Nach dem GP von Argentinien in Termas de Río Hondo beschäftigt uns eine neue und interessante Frage: Gibt es im helvetischen Rennsport bald eine neue Hierarchie?
OFT IST ES DIE GRÖSSERE LEISTUNG,
einen Spitzenplatz sicher nach Hause zu fahren, als mit einem waghalsigen Manöver den Sieg zu erringen. Wer nach 18 Rennen ganz oben stehen und Weltmeister werden will, muss die Risiken abwägen können. Nur erfahrene, grosse Piloten sind dazu in der Lage. Tom Lüthi (30) hat in Río Hondo den 49. und wohl ziemlich unspektakulärsten Podestplatz seiner Karriere geholt. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass wir im Rückblick erkennen werden: Es war sein wertvollstes Podium.
KLARE HACKORDNUNG
Früh zeichnet sich im Rennen die Hackordnung ab: Franco Morbidelli und Alex Márquez fliegen auf und davon. Im Formationsflug brausen die beiden Teamkollegen um den Rundkurs. Miguel Oliveira (er hat sich im Qualifying als erster Portugiese in der Moto2-Geschichte die Pole-Position gesichert) folgt in respektvollem Abstand. Tom Lüthi reiht sich nach einem formidablen und sicheren Start auf Position 4 ein. Alles scheint klar. Aber einer aus diesem Quartett gibt sich mit dem Unabänderlichen nicht zufrieden. Der sturzanfällige Alex Márquez wagt in der Schlussphase doch noch einen Angriff auf Morbidelli, übernimmt für ein paar Meter die Führung. Aber der Italiener kontert sofort, legt noch einen Zacken zu und ist fortan unantastbar. Hat dieser Angriff die Reifen ein entscheidendes Quäntchen zu stark beansprucht? Vielleicht. Vielleicht ist es auch ein Konzentrationsfehler. Oder einfach Pech. In der letzten Runde rutscht die Kalex von Márquez weg, fasst sofort wieder Grip und wirft den Fahrer aus dem Sattel wie ein Rodeo-Ross. Der Spanier gesteht reumütig: «Es war mein Fehler.» Miguel Oliveira und Tom Lüthi erben damit den zweiten und dritten Podestplatz.
TOM LÜTHI: INTELLIGENZ UND ERFAHRUNG
Tom Lüthi war auf diesem Rundkurs in Argentinien noch nie über einen sechsten Platz hinausgekommen. Jetzt sichert er sich mit intelligenter Fahrweise den dritten Rang. Er ist nun in der WM-Tabelle erster Verfolger von Franco Morbidelli. Der Italiener hat die beiden ersten Rennen der Saison mit einer schier beängstigenden Leichtigkeit gewonnen. Reift da schon wieder ein Champion heran, der Tom Lüthi im Titelkampf in der Sonne stehen wird – wie zuvor Stefan Bradl, Tito Rabat oder Johann Zarco? Mag sein. Aber der Tom Lüthi der Saison 2017 ist gelassen und taktisch schlau wie nie zuvor. Er bleibt ein Titelkandidat.
RAFFIN, DIE NEUE NUMMER 2?
Dass Lüthi, der Emmentaler, um die höchste Auszeichnung fahren kann, ist keine Überraschung. Darauf haben wir alle gehofft, damit haben wir gerechnet. Aber hinter ihm löst sich eine alte Ordnung auf, an die wir uns inzwischen zehn Jahre lang gewöhnt haben. Dominique Aegerter ist nicht mehr der unumstrittene Kronprinz. Jesko Raffin ist zum Zauberlehrling gereift und schickt sich an, dem Rohrbacher die zweite Position in der nationalen Hierarchie streitig zu machen. Er stellte seine Kalex, inspirierend mit der Startnummer 2 beschriftet, in der Startaufstellung neben Tom Lüthi (4.) in die zweite Reihe (5.) und hielt Dominique Aegerter (14.) auch im Rennen in Schach (13.).
RODRIGO: «TEAMWECHSEL WAR ENTSCHEIDEND»
Wie ist diese eindrückliche Steigerung möglich geworden? Sein Manager Marco Rodrigo sagt wahr und klar, so, wie es nicht in den offiziellen Medienmitteilungen steht, wie diese Steigerung möglich ist. «Der Wechsel aus den ausländischen Teams, für die Raffin bisher gefahren ist, ins Team von Tom Lüthi ist ein Wechsel in eine andere Kategorie. Im Schweizer Team gibt es eine klare Ordnung, die in den ausländischen Teams unbekannt ist. Wenn ich daran denke, wie in den früheren Teams Kreti und Pleti in der Box ein- und ausgegangen sind und in der Konzentration störten, welches Durcheinander es da gab, dann kommt es mir jetzt vor, als sei ich in einer anderen Sportart gelandet.
LEHRMEISTER TOM LÜTHI
Jesko kann von Tom Lüthi viel lernen. Die Daten der Fahrer werden auf den Teamserver hochgeladen und alle haben darauf Zugriff. In Jeskos bisherigen Teams hüteten die Fahrer eifersüchtig ihre Daten.» Schweizer Präzisionsarbeit macht Jesko Raffin schneller. Wenn er sich noch besser an die fahrerische Intensität der Top Ten gewöhnt hat, kann er Dominique Aegerter im deutschen Kiefer-Team in die Position des «Desperado», des Abenteurers, drängen, der um seine letzte Chance und gegen den Rest der Welt kämpft. In dieser Rolle könnte Aegerter, wenn er sich nicht verkrampft, wieder über sich hinauswachsen und wieder der Rennpisten-Rock’n’Roller werden, den wir lieben.