Können Reiseenduros Offroad?
Können diese dicken Reiseenduros wirklich auch im Gelände überzeugen, oder ist das Enduro im Namen reine Kosmetik? Keine wirklich kreative Frage, wurde sie doch schon von verschiedensten Motorrad-Medien gestellt – doch wir versuchen, sie etwas anders zu beantworten.
Was kann man mit so einer dicken GS, einer riesigen Africa Twin, oder auch einer der österreichischen Vertreterinnen aus der Adventure-Reihe im Gelände alles anstellen? Die Frage interessiert und wurde deshalb auch schon des öfteren „beantwortet“. Beantwortet in Anführungszeichen, weil die Versuchsanlage dabei meist sehr ähnlich aussah: Man nehme eine beliebige Reiseenduro, gebe sie in die Hände eines äusserst erfahrenen und fähigen Offroad-Piloten – am liebsten mit Enduro- und/oder Motocross-Vergangenheit – und sehe was passiert. Erstaunliches. Mit ihrem Können lassen die Experten das Offroaden mit den Dickschiffen kinderleicht aussehen. Aber natürlich ginge mit einer leichteren Maschine noch viel mehr. Fazit: Ein richtig guter Fahrer kann mit allem Offroad.
Otto-Normal-Verbraucher
Das ist selbstredend beeindruckend. Einem Profi dabei zuzuschauen, wie er eine 250-Kilo-Reiseenduro durch heftigstes Gelände oder über grosse Sprünge treibt, macht eindeutig Spass. Die Informationen, die der Otto-Normal-Verbraucher daraus ziehen kann, sind allerdings relativ beschränkt. „Werde Profi und du kannst auch mit deiner GS ins heftige Gelände.“
Als ich noch gar keine Offroad-Erfahrung hatte, interessierte mich hingegen immer: „Was kann ein Offroad-Anfänger mit einer Reiseenduro im Gelände anstellen?“. Das konnte mir kaum jemand genau beantworten, schwierig sei es, die Dinger halt richtig schwer. Das ist nun rund drei Jahre her. Seit meiner Tätigkeit für Moto Sport Schweiz und moto.ch habe ich meinen Offroad-Horizont erweitert. Ich war beim Elektro-Enduro-Kurs im Enduro Fun Park, habe bei der MX-Academy einen Motocross-Tageskurs absolviert, war in Schweden „Schottern“ und habe hie und da einige Reiseenduros über Schotterstrassen getrieben. Ich bin im Gelände kein blutiger Anfänger mehr, aber sicher auch kein Profi, bin auf einem Level, das für den berühmten Otto-Normal-Verbraucher durchaus ohne jahrelanges Training erreichbar ist.
In der Kiesgrube
Im Rahmen unseres letzten Vergleichstests Anfang Woche – er erscheint im nächsten Moto Sport Schweiz am 20. Juni – hatte ich nun die Möglichkeit drei Reiseenduros in etwas schwierigerem Gelände zu bewegen. Die neue KTM 790 Adventure trat gegen die BMW F 850 GS und die Honda Africa Twin an – Mittelklasse, also schon etwas leichter als die ganz Dicken – Glück gehabt. Darum welche die Beste ist, soll es hier aber gar nicht gehen, das lest ihr am besten im Heft geschrieben vom Offroad-Profi Tobi und mit den Eindrücken von ebenfalls Offroad-Profi und Gasttester Beat Gautschi – natürlich gebe ich da auch meine Eindrücke aus der Durchschnitts-Sicht weiter. Hier geht’s aber darum, wie ich denn überhaupt klar kam.
Für unseren Test durften wir uns im Offroadpark „Ultraterrain“ im unweit der Grenze situierten Geisingen in Süddeutschland austoben. Das Gelände bietet alles, was das Offroadherz begehrt: Schotterpassagen mit steilen Aufstiegen, Sprüngen, Anliegern usw., Wasserdurchfahrten, Tiefsandpassagen, enge Trails im Wald und und und!
Erfahrung und Vertrauen
Das Fazit zuerst: Ich kann praktisch alles hier fahren. Die Tiefsandpassage und die nassen, rutschigen Stellen machen mit den Adventure-Strassen-Reifen zwar nicht viel Spass und die schweren Maschinen schieben übers Vorderrad, aber es geht. Auf dem engen Trail im Wald zirkle ich um Wurzeln und Steine und habe praktisch immer ein Bein am Boden – anstrengend und langsam, aber es geht. Steile Aufstiege sind kein Problem, einfach am Gas bleiben und mit dem Körpergewicht ausgleichen. Ähnliches gilt für die Abfahrten: Gewicht nach hinten, Bremsen modellieren, klappt. Die ebenen Schotterpassagen können mich seit meinem Schweden-Abenteur eh nicht mehr beeindrucken, hat man sich erstmal an die schwimmenden Räder gewohnt geht Schottern ausgezeichnet.
Die Reiseenduros bringen also auch Nicht-Profis gut durchs Gelände, sind viel fähiger, als man ihnen dies zutrauen würde. Und trotzdem: Für blutige Offroad-Anfänger ist das nicht empfehlenswert. Beispielsweise ist das Heilmittel gegen ein einsinkendes und schwimmendes Vorderrad häufig mehr Gas. Etwas, das klar gegen den Instinkt geht und Anfänger darum praktisch nie tun. Und dann ist das Vorderrad weg, die 230-kg-Maschine liegt. Aufstellen ist mühsam, Kratzer und sonstige Schäden reichen von ärgerlich bis sauteuer. Etwas Erfahrung und Vertrauen ist fürs Fahren im Gelände essentiell.
Ja, aber…
Und darum lautet meine Antwort auf die Frage, ob auch Nicht-Profis mit Reiseenduros ins Gelände können: Ja, aber… Ja, aber nur, wenn sie schon etwas Erfahrung im Gelände haben. Dazu empfehle ich einen Enduro- oder Motocross-Kurs auf einer Leihmaschine – am besten einer möglichst leichten 250er. Mit denen kann man zwar genauso gut stürzen, aber da die dafür gebaut sind, geht meist kaum etwas kaputt, und sie sind durchs leichtere Gewicht auch einfacher wieder aufzustellen.
Wer so die ersten Erfahrungen gemacht hat, und sich auf losem Untergrund einigermassen sicher fühlt, kann seine Reiseenduro danach entspannt abseits der befestigten Pfade führen.
Text: Patrick Schiffmann | Bilder: Michele Limina, Schiffmann