KTM in der Krise – warum und wie weiter?
Derzeit vergeht kein Tag ohne beunruhigende Meldungen zu KTM: Von einem Liquiditätsengpass in dreistelliger Millionenhöhe, übervollen Lagern, einer tiefgreifenden Restrukturierung, erneutem Stellenabbau, einer Drosselung der Produktion – ja sogar von einem befristeten Produktionsstopp und einem Sanierungsverfahren ist die Rede. Was ist los bei KTM? Wir versuchen, die Fakten zu ordnen.
Bei KTM überschlagen sich in diesen Tagen die Ereignisse. Wurde im Jahr 2023 – nach 30 Jahren beeindruckenden Wachstums hin zum grössten Motorradhersteller Europas – noch ein Konzernumsatz von 3,6 Milliarden Euro bei einem EBIT von 160 Millionen Euro ausgewiesen, vergeht gegenwärtig kein Tag ohne Hiobsbotschaft aus Mattighofen.
Es begann mit der Corona-Pandemie. Weil KTM dank grosser Fertigungstiefe weniger stark von Zulieferern abhängig war, konnte Orange im Vergleich zu vielen Mitbewerbern im grossen Stil weiterproduzieren. Fertigung, Werksgelände und Personalbestand wurden in dieser Zeit sogar ausgebaut. Das Ziel war dabei klar: weitere Rekorde schreiben – Wachstum!
Hat KTM das Ruder zu spät rumgerissen?
Mit der Normalisierung nach der Pandemie brach die Nachfrage am Motorradmarkt ein, und es pendelte sich eine Marktsättigung ein, die sich teilweise noch heute bemerkbar macht, etwa im Premium-Segment. Dennoch steigerte KTM weiter die Produktion, wobei mehr Motorräder gefertigt wurden, als verkauft werden konnten. Die Lager in Mattighofen, aber auch bei den Händlern, wurden überschwemmt. Die Folge: Rabatte, Abverkäufe und – als Konsequenz – Ertragseinbussen.
Ein Grossteil der Liquidität dürfte dabei von den hohen Lagerbeständen vertilgt worden sein. Von den eigenen in Mattighofen und von jenen Neufahrzeugen, die bei den KTM-Händlern unbezahlt in Valuta stehen. Offizielle Zahlen gibt es hier nicht, aber es soll sich Gerüchten zufolge in einzelnen Landesmärkten um eine ganze Jahresproduktion handeln. Gigantisch viele Neufahrzeuge also, die keinen Ertrag gebracht haben, sondern – im Gegenteil – hohe Kosten (Herstellungs-, Zins- und Lagerkosten) verursacht haben bzw. verursachen. Und so wies die Pierer Mobility AG, in welche die KTM AG integriert ist (siehe weiter unten), im Halbjahresfinanzbericht 2024 beim «Free Cashflow» ein Minus von 615 Millionen Euro und beim EBIT ein Minus von 195 Millionen Euro aus. Wobei sich in diesen Zahlen natürlich auch die negative Entwicklung im Fahrradbereich niedergeschlagen hat.
Weniger Nachfrage nach Premium
Die Situation hat sich für KTM zusätzlich verschärft, weil – neben der Marktsättigung – in diesem Jahr auch ein Rückgang der Nachfrage von Premium-Motorrädern zu verzeichnen war. In Europa betrug der Absatzrückgang der Orangen im ersten Halbjahr gegenüber der Vorjahresperiode zwar «nur» 3,7 Prozent (26’727 statt 27’744 Einheiten). Und betrachtet man alle Motorradmarken innerhalb der Pierer Mobility AG, also auch Husqvarna, GasGas und MV Agusta, lag ein Minus von ebenfalls vertretbaren 5 Prozent vor. Im wichtigen nordamerikanischen Markt war beim Absatz jedoch ein Minus von satten 18,4 Prozent zu verzeichnen. Noch schwerer sind die Zahlen aus den wichtigsten asiatischen Ländern inkl. China zu verdauen, wo ein Absatzrückgang um 25 Prozent verbucht werden musste.
Nur Teile der Holding-Struktur betroffen
Um die aktuellen Ereignisse einordnen zu können, muss man verstehen, wie die Unternehmensgruppe des Industriellen Stefan Pierer aufgebaut ist. Das Dach bildet die Pierer Industrie AG. Diese hält u.a. 50,1 Prozent der Anteile der Pierer Bajaj AG, während die restlichen 49,9 Prozent dem indischen Automotive-Giganten und langjährigen Partner Bajaj Auto gehören. Die Pierer Bajaj AG ist mit 74,94 Prozent Hauptaktionärin der Pierer Mobility AG, die sich aus fünf Divisionen zusammensetzt: Motorräder (KTM, Husqvarna, GasGas, MV Agusta, CFMoto und Zeeho, wobei die letzten beiden Vertriebsmarken darstellen), Fahrräder, Design & Entwicklung, Digital & IT sowie Motorsport. Interessant ist nun, dass die KTM AG als Teil der Motorrad-Division für mehr als 95 Prozent des Umsatzes der Pierer Mobility AG verantwortlich ist. Und genau dieser Bereich – die KTM AG – ist nun in Schieflage geraten, wobei von einem dreistelligen Millionenbetrag die Rede ist.
KTM fährt die Produktion herunter
KTM reagierte bereits Anfang 2024, wandte sich von der Wachstumsstrategie ab und wollte sich wieder in Richtung Premium orientieren. Wobei zwecks Abverkaufs der hohen Lagerbestände die Produktion im laufenden Jahr bereits stark gedrosselt wurde. Sind im Jahr 2023 in Mattighofen noch 217’000 Einheiten vom Band gelaufen, werden es 2024 voraussichtlich noch rund 160’000 Töff sein, was einer Reduktion um rund 25 Prozent entspräche. Dieses Vorhaben wurde Mitte Jahr kommuniziert. Es ist sehr gut möglich, dass die Produktion inzwischen noch stärker gedrosselt wurde. Jedenfalls lautet das Ziel, Kosten und Absatz ab dem Geschäftsjahr 2025 zu stabilisieren.
Ohne Stellenabbau geht es nicht
Die Drosselung der Produktion allein reicht hierfür aber nicht. Sprich, es werden auch Arbeitsplätze abgebaut. Im ersten Halbjahr mussten bereits mehr als 300 Mitarbeiter das Unternehmen in Mattighofen verlassen. Im August hatte Pierer Mobility verkündet, weitere 200 Stellen zu streichen, wobei vorerst mehrheitlich Temporärangestellte betroffen waren, die während der letzten florierenden Jahre eingestellt wurden. Mitte November hiess es nun, dass bis Anfang 2025 weitere 300 Stellen wegfallen werden. Die Betriebsferien über Silvester sollen um eine Woche verlängert werden, wonach bis Ende Februar – bei entsprechenden Gehaltskürzungen – ein Produktionsstopp erfolgen soll. Ab März soll die Produktion von einem Zwei- auf einen Einschichtbetrieb umgestellt werden.
Sparmassnahmen auch im Rennsport
Auch in der Division Rennsport, die zwar nicht direkt betroffen ist, sind bereits Sparmassnahmen umgesetzt worden. So wird sich etwa Husqvarna aus dem Strassenrennsport zurückziehen. In der MotoGP soll KTM aber sicher die nächsten beiden Jahre am Start stehen. Der Rennsport ist für die Orangen ein zu wichtiges Marketing-Vehikel, weshalb Mattighofen nicht darauf verzichten wird. Zudem ist davon auszugehen, dass die anfallenden Kosten durch Sponsoring-Verträge weitgehend gedeckt sein dürften.
KTM muss frisches Geld beschaffen
Die oben beschriebenen, einschneidenden Sparmassnahmen reichen allerdings nicht. Zur Sicherung der Liquidität bzw. zur Deckung der Schulden braucht die KTM AG zusätzlich frisches Geld im – wie weiter oben bereits erwähnt – dreistelligen Millionenbereich. Entsprechend wurden in den letzten Tagen zwecks Schaffung einer Überbrückungsfinanzierung Verhandlungen mit den Aktionären und Gläubigern aufgenommen – auch mit der Hauptaktionärin Pierer Bajaj AG. Ob und inwieweit diese Verhandlungen bereits Früchte tragen, ist nicht bekannt. Fakt ist, dass sich die Verhandlungen in einem frühen Stadium befinden. Gerüchte, wonach Red Bull bei Pierer Mobility einsteigen könnte, wurden von Pierer allerdings bereits dementiert.
KTM und das Sanierungsverfahren mit Eigenverwaltung
Inzwischen – gemäss Mitteilung vom 26. November – geht das Management der Pierer Mobility AG davon aus, dass es nicht gelingen wird, die notwendige Überbrückungsfinanzierung rechtzeitig sicherzustellen. Und so wurde beschlossen, am Freitag, 29. November, einen Antrag auf Einleitung eines gerichtlichen Sanierungsverfahrens mit Eigenverwaltung über das Vermögen der KTM AG und ihrer Tochtergesellschaften KTM Components GmbH sowie KTM F&E GmbH (Forschung & Entwicklung) einzureichen. Diese Verfahrensart, die in Österreich übrigens erstmals Anwendung findet, erlaubt dem Unternehmen, weiterhin mit dem bestehenden Management – wenngleich unter Aufsicht – das Vermögen zu verwalten und das Unternehmen eigenständig zu sanieren. Alle sonstigen Tochtergesellschaften der KTM AG, insbesondere sämtliche Vertriebsgesellschaften, seien davon nicht betroffen, heisst es weiter in der Mitteilung.
KTM muss Zeit gewinnen
Ziel des Verfahrens, das der KTM AG ein wichtiges Zeitpolster geben würde, sei es, innerhalb von 90 Tagen mit den Gläubigern einen Sanierungsplan zu vereinbaren. Das Management macht jedoch klar, dass sich durch den Restrukturierungsprozess ein zusätzliches Verlustpotential ergeben werde, etwa durch Einmalaufwendungen wie notwendige Abwertungen (z.B. für aktivierte Entwicklungskosten), Kosten für den Mitarbeiterabbau sowie durch die Fixkostenunterdeckung aufgrund der verringerten Betriebsleistung. Das Management erwartet demnach ein negatives Jahresergebnis im sehr hohen dreistelligen Millionenbereich. Wobei allerdings unterstrichen wird, dass die übergeordnete Holding, also die Pierer Industrie AG, nicht überschuldet sei.
Gibt es Folgen für KTM Schweiz?
Wir wollten wissen, ob im Zuge der aktuellen Krise um KTM Implikationen für die Schweiz zu erwarten sind und haben uns diesbezüglich mit Chris Attiger, dem Managing Director von KTM Schweiz, unterhalten. KTM Schweiz ist eine 100-Prozent-Tochtergesellschaft der KTM AG. Attiger: «Ich bin sehr zuversichtlich, dass sich die Situation schon bald beruhigen und wieder Normalität einkehren wird. Wir arbeiten intensiv mit Mattighofen sowie mit unseren Händlern und geben Vollgas.» Bei der Frage, ob die Garantieleistungen in der Schweiz weiter gewährleistet sind, gibt Attiger Entwarnung: «Was die Garantie, aber auch Ersatzteile und den Kundendienst betrifft, gibt es keine Probleme. Da sind wir in keiner Weise tangiert.» Abschliessend haben wir Attiger um einen Ausblick ins Geschäftsjahr 2025 gebeten: «Unsere Händler sind mit aktuellen Modellen bevorratet, sodass der Saisonstart wie üblich und ohne Engpässe wird erfolgen können. Was die an der EICMA in Mailand präsentierten Modellneuheiten betrifft, wird es teilweise Verzögerungen geben.»
KTM AG versichert Kontinuität
Ähnliche Töne wurden kurz vor Fertigstellung dieses Beitrags auch vom Management in Mattighofen angeschlagen. Wobei uns folgende Stellungnahme zugestellt wurde, die wir hier eins zu eins wiedergeben:
«Mattighofen – Kunden und Neukunden von KTM müssen keine Einschränkungen fürchten. „Für unsere Kunden ändert sich nichts“, erklärte das Management am Mittwoch, den 27. November 2024. „Selbstverständlich garantieren wir, dass wir weiterhin im Rahmen der üblichen Konditionen Motorräder, Ersatzteile und Zubehör liefern. Es kommt zu keinen Unregelmässigkeiten – weder bei den Warenströmen noch beim Kundenservice.“ KTM befindet sich in den kommenden 90 Tagen in einer Restrukturierungsphase, um das Unternehmen an den weltweiten Bedarf anzupassen. Kunden werden bis dahin von diesem Boxenstopp für die Zukunft nichts merken. Auch für die bevorstehende Strassensaison ist KTM dank Modellneuheiten wie der KTM 125 SMC R, KTM 390 SMC R und der KTM 125 Enduro R, KTM 390 Enduro R sowie der KTM 390 Adventure und Adventure R gut gewappnet. Diese Modelle werden im 1. Quartal 2025 ausgeliefert.»
Wir werden weiter am Ball bleiben und – auf moto.ch – laufend berichten. Bleibt zu hoffen, dass das Sanierungsverfahren bewilligt wird und sich rasch ein gangbarer Weg sowohl für Pierer Mobility als auch für Aktionäre und Gläubiger finden lässt. Wir drücken die Daumen!
Info : www.ktm.com