Jeremy Seewer im Interview: Rückblick aufs Vize-Jahr
Jeremy Seewer ist Vizeweltmeister in der Königsklasse der Motocross-WM und damit der beste Solo-Schweizer der Geschichte. Auf seinem ungewöhnlichen Weg zeichnete er sich durch eine Schweizer U(h)r-Tugend aus: Zuverlässigkeit!
Der 25-jährige Jeremy Seewer macht eine unglaubliche Karriere und setzte in seinem zweiten Jahr in der Königsklasse der Motocross-WM mit dem zweiten Schlussrang ein neues, sensationelles Highlight.
Früh im WM-Zirkus
Nach den überlegenen Titelgewinnen in der Kid 65- (Punktemaximum) und der Mini 85-Schweizer-Meisterschaft lag die Priorität mit 14 Jahren bereits auf dem internationalen Motocross-Sport. Nach dem Vizemeistertitel im ADAC Junior Cup 85 standen die EMX125 – die U17-EM – und die EMX250 im Fokus. Denn beide Europameisterschaften wurden im Rahmen der WM ausgetragen, waren also die ideale Vorbereitung für eine WM-Karriere. Sie boten auch die Gelegenheit, Kontakte mit den grossen Teams zu knüpfen, und so öffneten sich für den damaligen Suzuki-Piloten nach dem Vize-Europameistertitel 2013 – im selben Jahr wurde er am MX der Nationen als bester Nachwuchspilot ausgezeichnet – die Tore in die WM.
2014 trat Seewer im MX2-Werksteam von Suzuki an. Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten arbeitete er neben dem Job im Werks-team noch und schloss 2015 seine Polymechanikerlehre mit einem Schnitt von 5,6 ab. Erst dann widmete sich der Teenager ganz dem Motocross-Sport und wurde in der MX2-WM (bis 250 cm3) 2016 und 2017 Vizeweltmeister. 2018 sollte er mit dem Suzuki-Werksteam unter Stefan Everts in die Königsklasse MXGP (450 cm3) aufsteigen. Doch Suzuki zog sich überraschend aus der Motocross-WM zurück. Yamaha fing den hoffnungsvollen Schweizer auf, platzierte ihn im Wilvo-Team und beförderte ihn im zweiten Jahr ins Werksteam von Michele Rinaldi.
Harziger Start
Ausgerechnet in der heissen Phase der Saisonvorbereitung zog sich der Bülacher letzten Winter eine Lungenentzündung zu und lag zwei Wochen im Bett – schlechte Vorzeichen! Doch Seewer liess sich nicht aus der Ruhe bringen: «Die WM wird nicht an einem Wochenende entschieden. Es reicht, wenn ich nach zwei, drei Rennen wieder fit bin. Das wichtigste ist, die Saison ohne Unterbruch durchziehen zu können», erklärte der Schweizer Vorzeigecrosser vor Saisonbeginn im MSS-Interview. Genau das ist es, was Seewer auszeichnet: Er bleibt ruhig und erlaubt sich auf Topniveau sehr wenig Fehler. Das war ein wesentlicher Faktor auf dem Weg zu seinem grandiosen Erfolg 2019.
Wir haben uns mit ihm über seine sensationelle Saison unterhalten.
MSS: Die Saisonvorbereitung hat ja alles andere als verheissungsvoll begonnen. Wie konntest du dich wieder hocharbeiten?
Jeremy Seewer: Es waren verschiedene Faktoren, und es brauchte sehr viel Geduld. In so einem Moment darf man nichts überstürzen. Mein Umfeld passte zu 100 % und liess mir die Zeit für den Aufbau. Zudem kam mir der WM-Kalender entgegen, denn nach den ersten drei GP hatten wir fünf Wochen Pause, und die konnte ich nutzen, um wieder fit zu werden.
Mit WM-Rang 2 hast du alle Erwartungen übertroffen, wohl auch deine eigenen –ursprüngliches Ziel waren ja die Top 5. Wann hast du dein Ziel revidiert?
Nach dem ersten Podium in Russland im Juni begann es konstant gut zu laufen. Gleichzeitig verletzten sich andere Spitzenfahrer. Dennoch habe ich mich nie auf das Saisonziel fokussiert, sondern von Rennen zu Rennen geschaut. Das war wohl auch der Schlüssel zum Erfolg.
Was waren deine Highlights dieser Saison?
Ein Highlight war sicher dieses erste Podium im MXGP. In Kegums hatte ich den zweiten Lauf 25 Minuten angeführt. Von da an wusste ich, dass es auch reicht, um ganz vorn mitzumischen. Das war ein spezielles Erlebnis!
Was waren die schwierigsten Momente?
Der Saisonbeginn mit den Plätzen 10 und 11 war enttäuschend. Am frustrierendsten war Mantova direkt nach der fünfwöchigen Rennpause. Ich wusste zwar, dass ich bereit war, vorn mitzufahren, aber das klappte überhaupt nicht. Im Anschluss an den GP konnten wir das Blatt zum Glück wenden.
Was ist da passiert?
Am Sonntag nach dem Rennen sind wir zusammengesessen. Das Problem war, dass ich neu im Rinaldi-Team war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Team noch nicht ganz verstanden, wie ich funktioniere, und ich nicht, wie sie arbeiten. Wir hatten irgendwie aneinander vorbei gearbeitet. Wir brachten das Problem auf den Tisch und hatten am Sonntag eine Aussprache bis tief in die Nacht. Von da an wussten sie, wie sie mit mir arbeiten müssen, und ich, wie ich mit ihnen umgehen muss.
Das Team hatte ja schon fast 30 Jahre Erfahrung mit verschiedensten Fahrern. Bist du denn so anders?
Sie kannten Motocross-Fahrer, die gewohnt sind, draufzusitzen und Gas zu geben. Das Team änderte etwas, gab es dem Fahrer zum Probieren, und der Fahrer sagte, ob es besser oder schlechter sei. Doch ich funktioniere anders: Ich muss technisch involviert werden, um zu verstehen, was anders ist und warum es nun besser läuft. Ich muss den Hintergrund verstehen. So kommen wir gemeinsam noch weiter.
Dann bist du also auch ein guter Entwicklungsfahrer?
Ja, das hat Yamaha inzwischen auch schon gemerkt, und jetzt bin ich der Fahrer, dem sie vertrauen, wenn es um Testarbeiten geht, für Japan oder auch Rinaldi. Das heisst, der Töff wird gebaut, wie ich ihn will.
Soweit zum ersten Teil unseres grossen Jahresabschluss-Interviews mit Jeremy Seewer. Teil zwei gibt’s jetzt hier!