Indien – wo der Pfeffer wächst
Indien ist bunt und laut, märchenhaft und geheimnisvoll, anstrengend und erholsam, bedrückend und bewegend. Bittere Armut trifft auf koloniale Pracht, moderne Technik auf uralte Religion, und Elefanten in freier Wildbahn treffen auf unvorstellbare Mengen Plastikmüll.
Das Arabische Meer schlägt mit dezenten Wellen an den Strand. Ich spiele mit den Zehen im warmen Sand, nehme einen Schluck aus der gut gekühlten Flasche Kingfisher-Bier und schaue tiefenentspannt der Sonne zu, die glutrot dem Horizont zustrebt. Ein paar dürre, buckelige Kühe trotten gemächlich durch das Bild – sie sind in Indien allgegenwärtig.
Auf der Tanshikar Spice Farm können wir Pfefferkörner direkt vom Baum verkosten. Zudem lernen wir, wie aus der gleichen Pflanze grüner, weisser und schwarzer Pfeffer produziert wird – und dass die roten Körner der Gewürzmischungen kein Pfeffer, sondern Schinusbeeren aus Brasilien sind. Berauschend wirkt die Betelnuss, universell verwendbar ist die geriebene Muskatnuss: Durch die Nase eingeatmet macht sie high, eine halbe Nuss in Wasser aufgelöst ergibt ein gutes Schlafmittel, und drei bis vier Nüsse sorgen für ewige Ruhe.
Vanille, Arabica-Kaffee, Zimt…
Unser Guide zeigt uns, wie Vanillepflanzen von Hand bestäubt werden und merkt am Ende des von ihm als «vanilla porn» bezeichneten Vorgangs zwinkernd an: «Now is happy flower.» Wir sehen bei unserem Waldspaziergang ausserdem Robusta- und Arabica-Kaffee, Zimt, Kardamom, Piri Piri (Obacht beim Kosten!) und vieles mehr. Die grosse Auswahl an exotischen Gewürzen und die erheblichen Aufschläge der zahlreichen Zwischenhändler von Arabien bis Venedig rückten den Subkontinent vor einem halben Jahrtausend in das Interesse der europäischen Elite.
Doch nur mit exzellenter Kenntnis der Meeresströmungen und Windrichtungen im Jahresverlauf war es möglich, die Südspitze Afrikas mit Segelschiffen zu umrunden und den Indischen Ozean zu durchqueren. Der Portugiese Vasco da Gama erreichte 1498 als erster Europäer Goa auf dem Seeweg. Endgültig vertrieben wurden die Portugiesen erst 1961; die Briten waren bereits 1947 abgemeldet. Bis heute erinnern nicht nur die gut erhaltenen Kirchen und Verteidigungsbauwerke an die europäischen Kolonialmächte, sondern auch die älteste noch produzierende Motorradmarke der Welt: Royal Enfield.
Unterwegs auf dem Highway 66
Derart stilgerecht motorisiert, verlassen wir Goa, den Sehnsuchtsort der Blumenkinder, und machen uns auf dem gut ausgebauten Highway 66 auf den Weg nach Süden. Subtropische Schwüle liegt bleischwer über dem Pilgerort Murdeshwar mit der grössten Shiva-Statue Südindiens. Immer noch warm, aber weniger stickig ist die Luft im Landesinneren. Mit ein paar Serpentinen schrauben wir uns an der Flanke des Gebirgszuges der Western Ghats empor, bis wir die Hochebene von Dekkan erreichen, und werden in der Tempelanlage von Sringeri Zeugen beeindruckender Feinmotorik: Man zückt zehn Rupien, ein freundlicher Elefant nimmt sie dir mit dem Rüssel grazil aus der Hand, schwingt den Geldschein zu seinem Aufseher, und am Rückweg gibt’s einen Rüssel-Tapper auf den Kopf – eine segnende, Glück verheissende Geste.
Im Palast des Maharadschas
Einer der berühmtesten Paläste Indiens dominiert das Zentrum von Mysore. Amba Vilas war die Hauptresidenz der örtlichen Maharadschas. Geradezu verschwenderische Pracht – Marmor- und Mosaikböden, schwere Silber- und kunstvoll geschnitzte Holztüren, unzählige Säulen, kostspieliges Mobiliar aus aller Herren Länder, Buntglasdekor und Spiegelwände – zeugt vom luxuriösen Lebenswandel der Mysore-Herrscher. Wir bestaunen grossformatige Gemälde, steinerne Leoparden und kunstvolle Metalltreib- und Schmiedearbeiten – aber im ehemaligen Saal des höchsten Gerichts, offen zum Palastgarten, konterkariert ein billiger Plastiksessel für den Aufseher die historische Herrlichkeit.
Strassenverkehr einmal anders
In wendigen Tuk-Tuks erkunden wir einen Teil der Grossstadt und lernen viel über kreatives Verkehrsverhalten. Im indischen Stadtverkehr ist es kein Fehler, europäische Konzepte einer Strassenverkehrsordnung über Bord zu werfen: Je geringer der Abstand zwischen den Fahrzeugen ist, umso kleiner ist auch die Aufprallwucht bei einer Kollision. Regelmässiges Hupen sorgt für gutes Karma. Fussgänger sind Rohmaterial für Verkehrsunfälle, Kühe haben hingegen alle Rechte. Beim Spurwechsel gilt das Motto: Der Schnellste muss nie nach hinten schauen, weil da kann ja nichts kommen. Und der Grössere hat Vorrang. Gefahren wird meistens auf der linken Strassenhälfte, die auch mal zwei Drittel breit sein kann.
Immunsystem-Update
Wir schlendern durch das Marktviertel, ein Hochamt für alle Sinne: Intensiv duftende Blüten werden zu endlosen Girlanden gefädelt, die akkuraten Gemüsestapel sind ein betörender Augenschmaus, und die Verhandlungen zwischen Angebot und Nachfrage wachsen zu einem beeindruckenden Stimmengewirr. No risk, no fun: Der frisch gepresste Zuckerrohrsaft sieht verlockend aus, schmeckt geradezu köstlich – und hat keine akuten Auswirkungen auf den Verdauungstrakt. Doch früher oder später erwischt fast jede(n) Reisende(n) ein kleines Immunsystem-Update. Dann schaltet der Magen für ein, zwei Tage auf Umkehrschub und/oder der Darm auf Fast Lane.
Elefanten im Tigerreservat
Mysore ist gewiss auch die beste Möglichkeit, aus unüberschaubaren Mengen von Seidenschals und anderen Kleidungsstücken in allen Farben des Regenbogens (und weit darüber hinaus) ein Mitbringsel für daheim auszuwählen. Das Abendessen nehmen wir im vermutlich nobelsten Restaurant der Stadt ein: Lalitha Mahal, der zweitgrösste Palast von Mysore, erinnert mit seiner Kuppel an das Capitol von Washington DC, hat als architektonisches Vorbild allerdings die Saint Paul’s Cathedral in London.
Anhalten verboten
Die nächste Überraschung hat der Mudumalai National Park auf Lager: Im Tigerreservat auf der nordwestlichen Seite der Nilgiri Hills ist das Anhalten ausdrücklich verboten. Dieses Verbot gilt jedoch nicht, weil Grosskatzen bewegte Beute bevorzugen, sondern weil früher mindestens ein Tourist pro Jahr von den im Reservat freilebenden Elefanten niedergetrampelt wurde. Die höchste Erhebung der Nilgiriberge ist der 2637 Meter messende Doddabetta. 36 Haarnadelkurven gilt es bis zu seinem Gipfel zu bezwingen – ein Gipfel, der bei unserem Besuch von grauen Wolken umspielt wird. Der nahegelegene, umgangssprachlich mit Ooty (sprich: «Uti») abgekürzte Ort Udagamandalam liegt immer noch auf rund 2200 Metern Seehöhe, was in den Sommermonaten ein angenehm kühles Klima verspricht – kein Wunder, dass die Briten hier eine Hillstation errichteten.
Prachtvolle Hotelzimmer
Pünktlich zum einsetzenden Regen erreichen wir den Sommersitz der Maharadschas von Mysore – unser Hotel. Die prachtvollen Hotelzimmer des Fernhill Palace sind grösser als so manche Wohnung daheim, das Highlight des Hotels ist die generös dimensionierte Hochzeitssuite: Zu ihr gehört auch eine Riesenterrasse mit drei Kanonen, die inzwischen freilich demilitarisiert wurden. Ähnlich munitioniert offenbart sich die holzgetäfelte Bar: Auch sie ist nur ein historisches Schaustück, denn das Hotel wird alkoholfrei geführt.
Abwarten und Tee trinken
Die Bergabfahrt ist ein Musterbeispiel indischer Überland- Verkehrsverhältnisse: Die Überholsichtweite auf der kurvenreichen Strasse ist bescheiden; LKW und Busse überholen einander dennoch sehr beherzt in unübersichtlichen Kurven. Im hinduistischen Samsara, dem Kreislauf der Wiedergeburten, dürfte der Strassentod offenbar als leicht verschmerzbarer Reset auf Werkseinstellungen gewertet werden. Ein grosszügig dimensionierter Sicherheitsabstand im Kolonnenverkehr ist nicht zuletzt auch olfaktorisch wertvoll, denn wenn du zu lang in den von unverbrannten Kohlenwasserstoffen geschwängerten Abgaswolken fährst, sind ausserkörperliche Erfahrungen nicht auszuschliessen.
Teeregion um Munnar
Die schönste Landschaft erleben wir am Ende unserer Reise: die Teeregion rund um Munnar. Bei Sonnenaufgang hängen zwischen den sanften Berghängen noch einzelne Nebelfetzen. Mit steigender Tagestemperatur lösen sie sich auf und geben den Blick frei auf Tausende Teebüsche, die wie eine dunkelgrüne, bis zum Horizont reichende Steppdecke anmuten. Dazwischen liegen Stauseen, ein paar verkehrsarme Strassen winden sich kunstvoll durch die Plantagen. Hinter jeder einzelnen der zahllosen Kurven offenbart sich ein neuer beeindruckender Ausblick über eine Bilderbuchlandschaft, die nicht zuletzt dadurch besticht, dass sie durch bemerkenswert wenig Plastikmüll verunreinigt ist.
Am Grabstein des Entdeckers
Nach zwei Wochen auf der Hochebene tauchen wir in Cochin wieder in das feuchtwarme, drückende Klima der Malabarküste ein. Typisch für die alte Handelsstadt sind die chinesischen Fischernetze, die über gefinkelte Holzkonstruktionen ins Wasser gelassen werden. (An der Mole gefangene Fische wird man nur dann verspeisen, wenn man das Wasser nie bei Tageslicht gesehen hat.) Ein Rundgang durch die Altstadt zeigt koloniales Erbe, das schon ein wenig heruntergekommen ist, touristische Shops, Antiquitätenhallen und natürlich Gewürzhandel en gros und en détail. Mit einem grossen Sieb, das zwei Männer unablässig schwingen, werden Ingwerwurzeln in verschiedene Grössenklassen aufgeteilt. Ein Dritter hockt sich auf die Holzkisten und nagelt den Deckel drauf. Im Innenhof sitzen zwei Frauen und sortieren schwarzen Pfeffer, in der Halle daneben werden die Körner in grosse Säcke abgefüllt.
Grab von Vasco da Gama
In der Franziskanerkirche finden wir das ehemalige Grab von Vasco da Gama. Mittlerweile sind seine Gebeine im Hieronymus-Kloster im Lissaboner Vorort Belém bestattet – gleich neben den Gräbern jener Regenten, denen der Admiral des Indischen Meeres diente. 1960 wurde vor dem Mosteiro dos Jerónimos, direkt am Ufer des Tejo, das Denkmal für die Entdecker (Padrão dos Descobrimentos) errichtet, auf dem auch Vasco da Gama verewigt wurde. Denn hier stach er dereinst in See, um neue Handelsrouten zu erforschen – nicht zuletzt in jene Ecke der Welt, wo der Pfeffer wächst.
INFOS Indien
Allgemeines, Reisezeit…
- Allgemeines: Die Republik Indien ist riesig. Bei der Fläche (3,3 Mio. km2) rechnen wir für den Schweiz-Vergleich mit dem Faktor 80, bei der Bevölkerung mit satten 160: 1,38 Milliarden Einwohner. Eines muss man unmissverständlich festhalten: Wer in allen Belangen des Alltags mitteleuropäische Sauberkeit erwartet, macht besser einen grossen Bogen um den Subkontinent. Ein Hüttenschlafsack, Badeschlapfen, persönliche Hygieneartikel und Handdesinfektionsgel dürfen im Reisegepäck nicht fehlen.
- Reisezeit/Wetter: 80 bis 90 Prozent der gewaltigen auf Südindien niedergehenden Regenmengen fallen mit dem Südwestmonsun zwischen Juni und September, wenn sich die Wolken am Gebirgszug der Western Ghats stauen. Der Nordostmonsun bringt von Oktober bis Dezember Niederschläge an der Südostküste und im zentralen Bergland. Von März bis Mai heizt sich das Land extrem auf. Aber auch im Februar bietet unsere Reiseroute alle Nuancen zwischen tropisch-schwülem Klima am Meer, trockener Hitze über 30 Grad auf der Dekkan-Ebene und regnerischen 15 Grad in den Bergen.
- Unterkunft: Der indische Hotelstandard darf hinsichtlich allfälliger Sterne nicht mit Europa verglichen werden. Im Fernhills Royal Palace geht einem (von Alkohol abgesehen) nichts ab, auch das Green Pastures Kodaikanal und das Poetree Sarovar Portico haben wir in guter Erinnerung. Die Sanitäranlagen der Hotels waren durchwegs in Ordnung – in Restaurants entlang der Strasse kann man jedoch intensive Überraschungen erleben.
- Kulinarik: Die (mitunter herzhaft gewürzte!) indische Küche besticht durch hohen Gemüseanteil, bietet aber auch Fisch und Geflügel. Die Currys werden mit Reis oder Brotfladen (Naan, Chapati, Papadam) zu Ballen geformt und mit der rechten Hand gegessen; Europäer bekommen auf Nachfrage einen Löffel. Alkoholische Getränke gibt es in Goa überall, in den Bundesstaaten Karnataka, Tamil Nadu und Kerala nur in lizenzierten Hotels und Restaurants. Bestes Restaurant der Tour: Sonho do Mar am Agonda Beach.
Geführte Motorradtour in Indien
- Geführte Motorradtour: Wir haben an der Tour «Südindien für Geniesser – von Goa bis Kerala» von Classic Bike India teilgenommen. Der deutschsprachige Veranstalter hat 30 Jahre Erfahrung vor Ort und setzt auf eine eigene, permanent gewartete Motorradflotte. Die Enfields sind weit weg von moderner Fahrzeugtechnik und -ergonomie, aber robust und mit überraschend dichten Satteltaschen aus dickem Leder ausgestattet. Touren in Südindien haben z.B. auch Indian Rides und Wheel of India im Programm.
- Website der Tourismusinformation: www.incredibleindia.org
Text und Fotos: Alexander Seger
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