Neoklassiker-Vergleich
New Heritage boomt! Doch bevor wir den 2017er-Jahrgang genau unter die Lupe nehmen, lassen wir drei europäische Retro-Bikes gegeneinander antreten, die noch 2016 von der Leine gelassen wurden und auch 2017 noch im Angebot stehen.
Nette Boutiquen mit edlem oder dann alternativem Touch unter den Viaduktbögen, gemütliche Cafés, in denen Studenten der Künste am Moccacino nippen, zielstrebige Geschäftsleute auf dem Weg zum Termin, überfüllte Veloständer, die Stadt riecht nach Hochsommer. Willkommen im Toni-Areal, dem hippen Szene-Quartier in Downtown Zürich. Ein Ort, an dem man auf uns und unsere Bikes nicht wirklich gewartet hat. Und dennoch fällt uns im Zuge der Fotosessions auf, dass wir wider Erwarten doch auf Wohlwollen stossen. Hier fragt einer nach dem Baujahr der Töff, dort lächeln uns zwei Fräuleins an, der Strassenmusiker an der Ecke winkt uns zu, und selbst der alte Quartiereinwohner bleibt stehen und scheint in Erinnerungen zu schwelgen.Mit dabei sind heute die drei heissesten Neoklassiker, die 2016 lanciert wurden. Namentlich die BMW R nineT Scrambler (Fr. 14 000.-) mit den wahlweise erhältlichen, grobstolligen Metzeler-Karoo-Reifen, die Dirt-Track-angehauchte Ducati Scrambler Flat Track Pro (Fr. 12’890.-) und die Thruxton R (Fr. 15’800.-). Triumph hat uns letztere mitsamt «Track Racer»-Originalzubehörkit hingestellt (u.a. mit Halbschale, Kurzheck, 5 cm tieferen Stummellenkern und Vance & Hines-Auspuff; Fr. 2650.-). Töff, die vor dem Hintergrund der Retro-Flut, die uns 2017 erfassen wird, nicht ausser Acht gelassen werden sollten, sofern in Bälde ein neuer Neoklassiker her soll. Wer übrigens mit der Ducati liebäugelt, sollte sich sputen, denn die Roten haben sie bereits wieder aus dem Programm genommen. Nur gut, dass bei den Händlern teilweise noch Flat Track Pros stehen.Unsere genormte Testrunde führt uns freilich durch die City, aber auch über Land und sogar über einen kleinen Pass, womit die Haupteinsatzgebiete unserer Neoklassiker wohl abgedeckt wären. Doch bevor wir loslegen, wollen wir noch kurz checken, wie sich die zentralen Merkmale unserer europäischen Zweizylinder-Preziosen präsentieren.«Tranquillo!» werden angehende Ducatisti sagen, denn die Scrambler ist die Günstigste im Trio. Gleichzeitig werden sie aber die Hände zum Gebet falten und ein „veramente?“ (wirklich?) äussern, denn die Flat Track Pro ist mit ihren 75 PS die Schwächste im Vergleich. Zu ihrer Verteidigung: Mit 803 ccm ist ihr Twin um knapp einen Drittel kleiner als die 1200er der BMW (1170 ccm) und der Triumph (1200 ccm). Mit 110 PS hat der BMW-Boxer am meisten Saft, was Bavaria-Liebhabern ein „jo freilich!“ entlocken dürfte. Beim Drehmoment ist ihm der 97 PS starke UK-Twin mit 112 versus 119 Nm allerdings dicht auf den Fersen.Um ein „oh, dear!“ werden Triumph-Aficionados dennoch nicht herumkommen, denn die Thruxton R hat 900 Franken aufgeschlagen und ist entsprechend nicht billig; erst recht nicht mit dem hier gezeigten Track-Racer-Zubehör-Ornat (total 18 450 Franken).Wir legen los und schnappen uns gleich mal die R nineT Scrambler. Eine Bombe von einem Motor pumpt hier im Gitterrohrrahmen. Untermauert von einem wuchtigen Sound, der vom lebhaft-kernigen Standgas-„Prrrr“ im beim Aufdrehen des langen Gaszugs die Oktave in ein beflügelndes „Praaaat, braaat, praaooot“ alterniert. 10 km/h sind mit dem Flat-Twin im Baustellen-Modus spielend zu halten, die Ansprache ist stets geschmeidig, und der bombastische, aber immerzu berechenbare Druck von ganz unten weiss immer wieder aufs Neue zu begeistern. Unkompliziert geben sich auch Getriebe und Kardan-Endantrieb, in Sachen Vibrationen entpuppt sich die BMW als echter Gentleman. Und dann dieses köstliche Brabbeln aus dem hochgezogenen Scrambler-Doppelauspuff im Schiebebetrieb – traumhaft!Beim Fahrwerk wissen wir schnell: Das ist nicht die gleiche Harmonie wie bei der diesbezüglich vielfach gelobten Basis-R-nineT. Das Handling ist zwar luftig und die Stabilität passt, doch will sich mit der Karoo-Bereifung nicht dasselbe hohe Mass an Vertrauen fürs Vorderrad einstellen. Beim Beschleunigen – und das Bike favorisiert einen durchaus sportlichen Fahrstil – interveniert die übrigens sehr gut arbeitende Traktionskontrolle jeweils schon ziemlich bald. Fakt ist: Da ist einfach weniger Gummi am Asphalt, und das macht sich bei den Gripreserven klar bemerkbar. Auch beim motivierten Bremsen, wo sich dann halt das ABS überproportional oft meldet. Ebenfalls gewöhnungsbedürftig ist das heulende Abrollgeräusch der Reifen ab 60 km/h. Bei Konstantfahrt ausserorts übertönt diese Sirene teils gar den Boxer. Wer die R nineT Scrambler also nur notgedrungen auf unbefestigten Strassen bewegen wird, wählt entsprechend besser die Strassenbereifung. Auch wenn die Grobstollengummis in Kombination mit den aufpreispflichtigen Kreuzspeichenrädern an der R nineT Scrambler zugegebenermassen verdammt scharf aussehen.Ein besseres Zeugnis stellen wir der Ergonomie aus: Leicht nach vorn geneigt, nimmt man in einem komfortablen Umfeld frei nach der Devise „hier kommt der Chef!“ breitarmig Platz. Die hübsche Sitzgelegenheit – wir testen die aufpreisfrei wählbare hohe Sitzbank – ist straff gepolstert, und wegen der stattlichen Sitzhöhe (850 mm; mit Standardsitz 820 mm) schneiden beim Abstehen – bei 174 cm Leibesgrösse auf Zehenspitzen – die Sattelkanten in die Oberschenkel. Diese Sitzbank macht also erst ab einer Körpergrösse von 180 cm wirklich Sinn.Die Verarbeitung ist auf Topniveau, wie auch bei der Triumph. Jedem noch so kleinen Detail wurde hier wie dort sehr viel Liebe geschenkt. Die Materialien wirken nicht nur wertig, sie sind es auch, und man wird das Gefühl nicht los, dass die Montage in Berlin bzw. Hinckley viel Zeit und Sorgfalt in Anspruch genommen hat. Nicht so bei der Ducati, die zwar ebenfalls originell, ja pfiffig wirkt, im Detail aber nicht an die Mitstreiterinnen herankommt. Die Spaltmasse sind soso lala, die Aufkleber wirken etwas „fisher-price“-haft, und Fussrasten wie Fusshebel sind schlicht billig.Dafür hat uns an der leichten Duc (186 versus zweimal 220 Kilo fahrfertig) der Motor überrascht! Zwar hängt auch dieser Scrambler-Twin ziemlich direkt am Gas, und bei Innerortstempi kann auch er ein leichtes Konstantfahrruckeln nicht kaschieren. Sonst aber dreht der Desmodue überraschend sauber, berechenbar, aber doch energisch hoch. Der Sound gibt sich dabei verlockend-kernig, robust, aber nie aufdringlich. Zur Leistungscharakteristik passt auch die Getriebeabstufung hervorragend, sodass die Flat Track Pro insbesondere im engen Kurvengewühl am Voralpen-Pass zur Kurvenquickie-Droge par excellence mutiert. Störende Vibes sind auch keine zu beklagen, und der Druck ist bärig, wenngleich (auch für die Reifen; keine TC) kaum überfordernd. Einzig in der Mitte wünschen sich sportliche Piloten vielleicht ein bisschen Extra-Drehmoment.Was uns zur potenziellen Käuferschaft der sicherlich fahraktivsten Scrambler von Ducati bringt: Die Flat Track können wir prinzipiell allen Fahrergattungen empfehlen. Denn sie ist im Umgang absolut easy und auch ergonomisch – mit ihrem leichtem Supermoto-Flair – absolut einsteigerfreundlich. Gleichzeitig aber ausreichend erwachsen und sportlich, sodass auch Routiniers mit ihr auf ihre Kosten kommen. Wir jedenfalls hatten im Sattel dieser Scrambler einen Heidenspass! Nicht zuletzt, weil die Bremsen bei guter Dosierbarkeit bei Bedarf kräftig zupacken. Einzig das ABS dürfte eine Spur feiner regeln. Chassis, Fahrwerk und Geometrie harmonieren mit den anderen zentralen Baugruppen nahezu perfekt. Die Duc trifft so den Mix zwischen leichtem Handling und satter Stabilität wirklich gut, sodass Kurven aller erdenklichen Couleur bei Top-Präzision fast wie von selber gehen. Zudem bügeln die langen Federwege gerade in der City Asphaltunebenheiten nachhaltig aus, was viel Komfort bringt. Rangieren? Wie bei der Thruxton kein Problem.Das harmonische Gesamtpaket ist bei der Scrambler der Schlüssel zum Glück. Mit ihr lässt es sich entspannt von A nach B zotteln und bei Bedarf überraschend sportlich kurvenwetzen. Die polyvalente Ergonomie der Flat Track spielt dabei freilich eine entscheidende Rolle. Entspannt-aufrecht und doch ausreichend aktiv mit genügend Gewicht auf dem Vorderrad thront man auf dieser Scrambler.Auf die Triumph setzt man sich nicht einfach so drauf, man spaziert zunächst um sie herum, schaut sie sich an, saugt jedes Detail in sich auf. Und geniale Details gibt es an der Thruxton R mit Track-Racer-Kit haufenweise. Auch hier haben wir es mit einem Gedicht von einem Motor zu tun: sehr sanfte Ansprache, enorm viel Druck von ganz unten, vorbildliche Linearität, Drehfreude bis in den Begrenzer bei 8000/min, keinerlei störende Vibes, verdammt viel Charakter. Und dann dieses vollmundig-dumpfe Twin-Bollern frisch ab der Vance & Hines-Anlage; Gänsehaut pur! Ausgesprochen umgänglich ist der „High Power“-Achtventiler nicht zuletzt dank der formidablen Baugruppe Zweifingerkupplung-Getriebe.Das in jeder Hinsicht brillante Fahrwerk – Handling und Stabilität harmonieren perfekt – ist ausreichend straff gefedert, um es sportlich krachen lassen zu können, und gleichzeitig genügend soft für die erbauliche Genuss-Ausfahrt. Apropos Genuss: Bekanntlich bieten die Neo-Thruxtons trotz sportlich-verschärfter Optik eine überraschend komfortable Ergonomie. Mit den rund fünf Zentimeter weiter unten verschraubten Lenkerhälften des Track-Racer-Kit ist dieses gepriesene Attribut natürlich dahin, und die Thruxton R wird auf Dauer anstrengend. Optisch ja, aber rein fahrdynamisch besteht für den Lenkerumbau sicher keine Notwendigkeit. Tja, wer schön sein will, muss halt leiden.
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FazitDas Schöne an Neoklassikern: Jedes Bike fühlt sich komplett anders an – hat jeweils eine eigene Geschichte zu erzählen. Alle drei haben uns viel Spass bereitet; die aus gutem R-nineT-Hause stammende, extravagante und in der vorliegenden Konfiguration vielleicht etwas überzeichnete BMW, die blaublütige, aber teure Triumph und die schlitzohrige Duc, die im Detail etwas liebevoller gestaltet sein könnte. Einen Sieger gibt es nicht, nur drei Bikes, die bei tollen fahrdynamischen Qualitäten das Thema „New Heritage“ jeweils auf originelle Art individuell interpretieren. |
Messwerte | Triumph | BMW | Ducati |
Topspeed | 217 km/h | >200 km/h | 195 km/h |
Beschleunigung0-100 km/h | 3,5 s | 3,5 s | 4,1 s |
Durchzug50-100 km/h | 5,0 s | 4,7 s | 5,3 s |
BMW R nineT Scrambler Preis: ab 14’000 FrankenHubraum: 1170 ccmLeistung: 110 PS bei 7550/minDrehmoment: 119 Nm bei 6000/minGewicht: 220 kg fahrfertigSitzhöhe: 820 mmTankvolumen: 17 lImport & Info: www.bmw-motorrad.chMotor: Zweizylinder-Viertakt-Boxermotor, 4 radiale Ventile/Zylinder, Trockenkupplung, 6 Gänge, Endantrieb über Kardan.Fahrwerk: Stahl-Gitterrohrrahmen, Telegabel (43 mm, Zug- und Druckst. einstellbar), Alu-Einarmschwinge mit Zentralfederbein (Link-System, Basis und Zugst. einstellbar), vorn Doppelscheibe (320 mm) mit Vierkolbenzangen, hinten Einzelscheibe (265 mm) mit Doppelkolben-Schwimmsattel. Reifen 120/70-19 und 170/60-17.Plus-Minus+ Potenter Gentleman-Motor+ Astreine Verarbeitung+ Sehr gute Assistenzsysteme+ Wuchtiger Sound, cooles Brabbeln- Karoo-Reifen auf Asphalt suboptimal- Hohe Sitzbank an Testmaschine |
Ducati Scrambler Flat Track Pro Preis: ab 12 890 FrankenHubraum: 803 ccmLeistung: 75 PS bei 8250/minDrehmoment: 68 Nm bei 5750/minGewicht: 186 kg fahrfertigSitzhöhe: 790 mmTankvolumen: 13,5 lImport & Info: www.ducati.chMotor: 90-Grad-V2-Viertakter, 2 Ventile/Zylinder (desmodromisch), Nasskupplung, 6 Gänge, Endantrieb über Kette.Fahrwerki: Stahl-Gitterrohrrahmen, USD-Gabel (41 mm), Alu-Zweiarmschwinge mit seitlich angebrachtem, direkt angelenktem Federbein (Basis einstellbar), vorn Einzelscheibe (330 mm) mit Vierkolbenzange, hinten Einzelscheibe (245 mm) mit Einkolben-Schwimmsattel. Reifen 110/80-18 und 180/55-17.Plus-Minus+ Quicklebendiger Motor+ Spielend im Umgang+ Flinkes, präzises Fahrwerk+ Harmonisches Gesamtpaket- Formgebung Sitzbank- Einige Teile wirken unwertig |
Triumph Thruxton R Preis: ab 15 800 FrankenHubraum: 1200 ccmLeistung: 97 PS bei 6750/minDrehmoment: 112 Nm bei 4950/minGewicht: ~220 kg fahrfertigSitzhöhe: 810 mmTankvolumen: 14,5 lImport & Info: www.triumphmotorcycles.chMotor: Reihenzweizylinder-Viertakter, 4 Ventile/Zylinder, Nasskupplung, 6 Gänge, Endantrieb über Kette.Fahrwerk: Stahl-Zentralrohrrahmen, BP-USD-Gabel (43 mm, voll einstellbar), Alu-Zweiarmschwinge mit Stereofederbeinen, (Öhlins, voll einstellbar), vorn Doppelscheibe (310 mm) mit radialen Monobloc-Vierkolbenzangen, hinten Einzelscheibe (220 mm) mit Doppelkolben-Schwimmsattel. Reifen 120/70-17 und 160/60-17.Plus-Minus+ Druckvoller und umgänglicher Twin+ Fahrwerk und Geometrie top+ Design, Anmutung, Details+ Feine elektronische Assistenzsysteme- Preislich an der Schmerzgrenze- Spiegelungen in den Rundinstrumenten |