Mit der Enduro durch die Savoie und Haute-Savoie
Peter Musch nimmt uns mit auf eine unterhaltsame Enduro-Tour durch die Savoie und Haut-Savoie in Frankreich. Hoher Schotteranteil ist inklusive.
Savoie und Haute-Savoie mit der Enduro bedeuten grossen Fahrspass. Und zwar auf den verkehrsarmen Strassen und umso mehr auf den vielen legal befahrbaren Schotterstrecken. Das grosse Alpenkino mit genialen Fotospots runden das Ganze ab.
Nach dem ersten Lockdown
Übertragen in die harte Realität des «nach dem ersten Lockdown ist vor dem zweiten Lockdown» heisst das: hinein in den Sommer und die französischen Alpen und hinauf in die Skigebiete des Departement Haute-Savoie. Wir treffen uns in Martigny. Tiefenentspannt aufgrund der aktuellen 4-Tages-Wettervorhersage, fein motorisiert mit drei brandneuen Honda Africa Twins und einer wunderschönen Triumph Scrambler 1200. Geleitet von einem Track, den unser genialer Kollege und «Soulbrother» Antoine Valla, der Inhaber der Agentur «Ride & Drive» aus Montreux, für den Honda-Event «Ride-with-us 2020» ausgearbeitet und zur Verfügung gestellt hat. «Gentleman, start your engines …»
Nur noch bergauf
Ich bin überzeugt davon, keinem der Anwesenden erklären zu müssen, wie man von besagtem Startpunkt aus hinüber nach Chamonix kommt. Oder weiter nach Les Houches und nach Saint-Gervais-les-Bains. Doch ab hier dann: Kurz hinter dem Ortsausgang, grobe Richtung Süd-Südwest, rechts abbiegen und nur noch bergauf. Schämt euch nicht, wenn ihr weint, ab jetzt. Schöner, grüner und feiner wird es selten oder gar nicht. Mit der Reise-Enduro über die Almen, die Bergwege und Trails, über kleine Sättel, hinunter ins nächste Tal und wieder bergan, immer gemütlich, immer unfassbar schön.
Grüssen und danke sagen
Doch Schluss mit den Freudentränen, jetzt gibt es den unvermeidbaren Wermutstropfen. Meistens sind wir auch hier in diesen entlegenen Gegenden der Savoie nicht ganz allein. Dieser Umstand ist natürlich unserer Reisezeit geschuldet, denn wo bitte ist man im August, ausser in Süd-Papua-Neuguinea oder auf den Falklandinseln, wirklich allein? Doch es ist genauso wie auf französischen Landstrassen, wo beinahe jeder Autofahrer auf die rechte Seite zieht, wenn er einen Töff im Rückspiegel sieht. Auch hier oben ist es ganz normal für Wanderer und Mountain-Biker, Platz zu machen und den Schnelleren auf der Enduro vorbei oder passieren zu lassen. Très important: Grüssen! Danke sagen! «Bonjour» et «Merci bien». Ganz einfach.
Unvermeidbarer Bergblick
Wir kommen nach Méribel und sind den ganzen Tag auf vollkommen legalen Strassen und Wegen unterwegs gewesen, haben mittlerweile auch aufgehört zu weinen, weil wir zu müde sind. Und gönnen uns für diese erste Nacht im Paradies noble Zimmer mit unvermeidbarem Bergblick im extraschönen Hotel «La Chaudanne». Ruhig schlafen können ausser mir, dem Vorausfahrer, bestimmt alle, denn die nächste Tagesetappe in einem grosszügigen Rundkurs von ca. 250 Kilometern um Méribel herum, nach Moûtiers, hat es in sich.
Schnee bis im Juli
Nicht nur, dass wir mit einer Meereshöhe von 2560 Metern einen der höchsten Punkte offiziell befahrbarer Strassen in Frankreich erreichen, vielmehr hatten wir auf der Scouting-Tour für diese Reise, vier Wochen zuvor im Juli, auch noch mit Schnee auf dem Track zu kämpfen. Klassischer Vierkampf: Mensch, 236-kg-Maschine, alter, tiefer Firnschnee, Bergweg. Doch alles ist gut, am nächsten Morgen: zwei Croissants, einen Café au lait und einen Sonnenaufgang später. Der Schnee, über den ich vor meinen Compañeros nicht zu sprechen gewagt habe, ist nur noch auf den umliegenden Gipfeln zu sehen, die Sonne strahlt, die «Töffli» brummen.
«Das DCT gibt dir Zeit zum Jauchzen»
In diesem Zusammenhang sei mir ein kleiner Exkurs in die Technik gestattet. Ich liebe Motorräder mit viel Hubraum, Drehmoment und klassischem Antrieb. Doch das, was eine Honda Africa Twin mit einem Doppelkupplungsgetriebe (DCT) zu bieten hat, ist fantastisch. Selten bis nie war ich nach wenigen Kurven so auf einem Töff zu Hause wie auf der Africa Twin. Sobald du nach spätestens 30 Kilometern kapiert und verinnerlicht hast, dass es keine Kupplung gibt und du die linke Hand nur brauchst, um beim Bergauf-Fahren stehenzubleiben und die Handbremse zu arretieren, hast du Zeit zum Jauchzen und zum Jubilieren. Darüber, wie unverschämt einfach und entspannt du durch engste Spitzkehren mit losem Schotter zirkelst und selbst gnadenlose Steilauffahrten mit einer entspannten und weichen Gashand pulverisierst.
Kein Poser-Töff
Technikexkurs, zweiter Teil: ein paar ehrlich gemeinte Worte auch zur Triumph Scrambler 1200. Sie verbindet den eingangs erwähnten klassischen Antrieb mit anständig Schub, Drehmoment, einem grandiosen Sound und einem unverschämt guten Aussehen. Kein auf Retro getrimmter Poser-Töff, sondern eine echte Enduro, die nicht zuletzt durch die unschlagbare Conti-TKC-80-Bereifung die Latte für die Konkurrenz sehr, sehr hoch legt. Einziges Manko, zumindest für Leute unter eins-achtzig Körpergrösse: die relativ wenig variable Sitzhöhe von sage und schreibe 870 Millimetern. Unser Fotofahrer Yassin «The Bezerk» Mounajed kompensierte diesen Umstand ganz einfach mit Fahrkönnen und gnadenloser Offroad-Routine. Geht doch …
Das Gefühl, ganz oben anzukommen
Nach ein paar Kilometern auf geteerten Strassen biegen wir in Courchevel 1650 wieder scharf rechts ab und ziehen hinauf zum höchsten Punkt unserer Tour. Über lose geschotterte und abschnittweise geteerte Versorgungsstrassen bis hin zu den letzten Stützen der allgegenwärtigen Lifttrassen. Immer den Mont Blanc im Rücken, immer mit dem Gefühl, jetzt dann ganz oben anzukommen. Ein beinahe surreales Gefühl, so weit oben, unter den Masten und Zugseilen der Skilifte, im Sommer und auf dem Töff. Nach einer obligatorischen Verschnauf- und Fotopause wedeln wir wieder hinunter in die Zivilisation, freuen uns über einen kurzen und genauso obligatorischen Stopp in einem kleinen Café und klettern auf der gegenüberliegenden Seite des Tals über immer steiler werdende Trails hinauf zur Refuge du Mont Jovet.
Bekanntlich gibt es ja einige Dinge in Frankreich, die heilig sind. Eines davon ist sicher das Mittagessen. Wir stoppen die Motoren, senken unser Haupt und wandern die letzten Meter zu Fuss zur wunderschönen Refuge und zelebrieren eben dort ein Dejeuner der Extraklasse, ganze eineinhalb Stunden lang.
Wie in „A Farewell To Arms“
Es sei mir an dieser Stelle ausserdem erlaubt, ein paar Zeilen aus dem Buch «A Farewell to Arms» des verehrten und geliebten Ernest Hemingway zu zitieren. Denn genauso ist der weitere Weg über Saint-Marcel und Aime und hinunter nach Moûtiers, unserer nächsten Übernachtungsstation, am trefflichsten beschrieben: «… und fuhren dann an der vorspringenden Wand eines langen Berges in ein Flusstal hinab. An beiden Seiten der Strasse standen hohe Bäume und durch die talseitige Baumreihe hindurch sah ich den Fluss, klar, schnell dahinfliessend, flach. Der Wasserstand war niedrig; es gab Sand und Steinstrecken, die von einer schmalen Wasserrinne durchzogen waren, manchmal auch breitete sich das Wasser wie ein Schein über das Kiesbett. In der Nähe des Ufers sah ich tiefe Stellen mit Wasser, so blau wie der Himmel.» Zitiert aus «A Farewell to Arms» von Ernest Hemingway (Rowohlt Verlag, Hamburg, 1957).
Wir «easy riden» die letzten Kilometer in unser Nachtquartier über die N 90, schlafen in der wunderschönen «Auberge du Savoie», und machen uns am nächsten Tag auf den Weg für unsere dritte und letzte Etappe. Folgen kleinsten, meist einspurigen Strassen auf der Westseite des Isère-Tals bis zum Lac de Saint-Guérin, weiter nach Beaufort und sind dann in Ugine und vor dem letzten grandiosen Aufstieg über Almwege hinüber zum Col des Aravis.
Nochmals „das volle Programm“
Diese letzte Offroad-Sektion unserer Enduro-Tour durch die Savoie und Haut-Savoie bietet noch einmal – wie sagt man – «das volle Programm». Die Ouvertüre ist eine winzig kleine und holperig geteerte Passstrasse bis auf eine Höhe von ca. 1600 Metern. Wir hängen uns an zwei «Moto-Locals» und ziehen unsere Linie bis zur Baumgrenze hinter ihnen her. Mit dem Wechsel des Strassenbelags wechselt dann auch die Führung. Jetzt sind wir wieder daheim. Auf dem Schotter, auf dem Trail und in den Spitzkehren. Wir unterbrechen diese letzte Offenbarung lediglich für das heilige Mittagessen, oben in der Refuge «Plan Rebord».
Grandioses Panorama, ein göttliches «Steak-Frittes», unnachahmliche Blaubeertorte und sehr feines Personal. Die letzten zehn Schotterkilometer bringen uns zurück auf die D 909 und dann in einem weiten und sehr kurvigen Bogen über Megève und Les Houches zurück nach Chamonix und über den Col des Montets, zurück an den Ausgangspunkt unserer herrlichen Tour, nach Martigny.
Text und Fotos: Peter Musch