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Vom Emmental in den MotoGP-Olymp

Wie ein Goldschmied, ein Autoersatzteilhändler und ein Biermilliardär aus dem Emmentaler «Tömeli» einen MotoGP-­Piloten machen. Die wundersame ­Geschichte des Aufstiegs von Tom Lüthi vom Pocket-Bike- Bub bis in die Königsklasse.

Wie kommt es, dass ausgerechnet ein Emmen­taler den Aufstieg in die ­Königsklasse geschafft hat und nicht einer aus den urbanen Zentren Helvetiens? Wie Goethe können wir sagen: «Willst du den Fahrer verstehen, musst du in sein Land gehen.» Also auf ins Emmental.

Schon Tom Lüthis Vater Hansueli war ein Töfflibueb mit Benzin im Blut. Anfang der Achtzigerjahre gehört er zu den besseren Nach­wuchs­fahrern der Schweiz. Aber er hat zu wenig Geld für die grosse Karriere. So bleibt er daheim in Linden, bewirtschaftet das Heimetli im Barschwand und arbeitet nebenbei als Sanitärinstallateur drüben in Konolfingen, auf der anderen Seite des Kurzenbergs. Aber warum fräsen sie seit Generationen ausgerechnet hier oben in Linden?

 

Kurven um Linden

Von beiden Seiten, von Röthenbach im Emmental und von Oberdiessbach im Aaretal her, führen kurvenreiche, auch heute noch wenig befahrene Landstrassen hinauf nach Linden. Hier wird seit der Erfindung des Explosionsmotors gehörig Gas gegeben. In den Fünf­zigerjahren ist der Töff das Auto des armen Mannes. Wer sich verpflichtete, seinen Boliden für die Armee zur Verfügung zu halten, dem wurde die Hälfte des Kaufpreises erlassen. Für 1500 Franken, über die Armee erworben, ist eine Condor 580 sogar für die Jungs aus Linden erschwinglich. So kommt der Töffvirus ins Dorf und bleibt, greift auf die Jungen und wieder auf die Jungen über. Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind in Linden zeitweise 134 schwere Motorräder gelöst, im Verhältnis zu den 1348 Einwohnern doppelt so viele wie in der übrigen Schweiz.

 

Am Anfang war das Pocket-Bike

Aber damit aus Linden heraus ein Weg ins internationale Töff-Business führt, braucht es die Hilfe des Schicksals. Tom, der noch «Tömeli» gerufen wird, trifft den Querdenker Tinu Bischoff. Wegen Tinu wird Tömeli im Alter von acht, neun Jahren zum Töfflibueb. Beim Nachbar im Barschwand lebt der Sämeli, dessen Vater Tinu Bischoff unten in Steffisburg, dort, wo die Hügel ins flache Land übergehen, am Schulgässli 26 eine Goldschmiede betreibt. Für seinen Sämeli bastelt Tinu Pocketbikes. Kleine Motorräder, die man unter den Arm klemmen und davontragen kann. ­Tömeli ist begeistert. Tinu ist vom Gedanken besessen, dass es von Linden einen Weg hinaus in die grosse, weite Töffwelt gibt. Er fährt mit Tömeli und Sämeli hinaus nach Deutschland und hinab nach Italien, bis Rimini. An einem Tag unten in Rimini am Meer wird Tinu klar: Der Tömeli wird einmal ein ganz Grosser. Sie stehen an der Piste und die Italiener furzen herum, und plötzlich kommt Luca Pasini, der Hersteller der berühmten Pasini-Pocketbikes (das sind damals die Ferraris der Kindermotorräder), und fragt den Tömeli, ob er auch mal so ein Ding fahren wolle. «Soll ich?», fragt ­Tömeli, und Tinu sagt: «Ja natürlich sollst du». Tömeli sitzt auf, macht ein paar Proberunden und dann fräst er munter mit Mattia Pasini und Marco ­Simoncelli um die Wette. Da hat es bei Tinu klick ­gemacht. Denn die Italiener sind schon in diesem Alter die Besten der Welt und ­Tömeli hält mit den Besten der Welt mit.

 

Woher das Geld?

Aber eben: Eine richtige Töff­karriere ist oben in ­Linden nicht finanzierbar. Doch nun spielt im Frühjahr 2001 das Wetter Schicksal. Es ist trüb, es regnet. Sonst wäre Hansueli draussen auf dem Feld an der Arbeit gewesen. Und er hätte den Telefonanruf aus Frankreich nicht gehört. Die Chance wäre vorüber­gegangen. ­Jochen Hahn ist am Apparat, der Besitzer ­eines Ju­niorteams aus Deutschland. Er ist gerade auf dem Heimweg von einem Renntraining in Frankreich. Er hat von Tömeli, dem talentierten Töfflibueb aus Linden gehört, und will dem 15-Jährigen eine Chance im ADAC-Junior-­Cup geben. Um die Sache aufzugleisen, möchte er sich sofort mit Hansueli in Mulhouse (F) treffen. Wäre schönes Wetter gewesen, dann wäre Hansueli nicht hingefahren. Aber es regnet, er hat nichts Besseres zu tun und so reist er nach Mulhouse, trifft sich mit ­Jochen Hahn, und die Karriere seines Buben beginnt. Aus Tömeli wird Tom und er fährt im ADAC-Junior-­Cup mit.

 

«Guten Tag, Herr Epp»

Toms Eltern Hansueli und Silvia lassen klug den Dingen ihren Lauf, sie sehen wohl, dass ihrem Buben da eine Karriere ermöglicht wird, sind froh, dass jemand mithilft. Und wieder hilft das Schicksal. Zur gleichen Zeit, als aus Tom ein Rennfahrer wird, baut ein Baselbieter nach der Wende im Osten in Prag ein Unter­nehmen für den Handel mit ­Autoersatzteilen auf. Neben­bei betreibt Daniel M. Epp – der zwischen Vor- und Nachname das Kürzel M. einschiebt, um bei Abkürzungen («D. Epp») Missverständnisse zu vermeiden – ein Rennteam. Er lässt ­Piloten aus Tschechien bei der Weltmeisterschaft antreten. Viel lieber hätte er allerdings einen Schweizer. Aber er findet keinen. Bis ihm der Journalist ­Waldemar Da Rin, ein Bekannter Tinus, von Tom Lüthi erzählt. Epp knattert im Lamborghini zum Rennen an die Deutsche Meisterschaft am Lausitzring, um das Wunderkind zu ­beobachten. Tom fährt gut. Daniel M. Epp ist beeindruckt, begeistert und überzeugt. Er übernimmt in der eben angelaufenen Saison 2002 das finanzielle Risiko, das Toms Eltern auf Dauer ohnehin nicht mehr hätten tragen können. Und schon ist die ganz grosse Chance da: Epps tschechischer Fahrer Jakob Smrz stürzt und verletzt sich. Tom darf am 21. Juli 2002 als Ersatzmann für Smrz beim GP von Deutschland auf dem Sachsenring bei den 125ern erstmals gegen die Besten der Welt antreten. Er hält dem Druck stand, wird im Training 33. und im Rennen 26. Er ist von nun an ein GP-­Pilot.

 

Vom Töff-Lehrling zum Weltmeister

Nach dem Abschluss der Schule und der Saison 2002 wird Tom Töff-Lehrling bei Epp und kann ohne finan­zielles Risiko drei Jahre lang (2003, 2004 und 2005) im Rahmen der Weltmeisterschaft das Handwerk ­eines Rennpiloten erlernen. Resultat: Er holt im dritten Lehrjahr 2005 den ersten GP-Sieg für die Schweiz seit Jacques Cornu (1989) und den ersten Solo-WM-Titel seit 1985 (Stefan Dörflinger/80 cm3). Nun ist er ein bestandener GP-Pilot. Daniel M. Epp wird Tom Lüthis Freund und kümmert sich bis heute um das Management seiner Kar­riere. Inzwischen hat er seine Firma an eine Investorengruppe verkauft, lebt als Rentner in Prag und Liechtenstein – der Rennsport bleibt seine ­Leidenschaft. Er dürfte ­einer der besten Rennsportmanager überhaupt sein. 2007 steigt Tom Lüthi in die 250er-Klasse auf und 2009 bekommt er erstmals die Chance, auf die Saison 2010 in die «Königsklasse» zu wechseln. Mit einem eigenen Team. Auf einer Honda.

 

2010: Die erste MotoGP-Chance

Sein Manager hat die ­Finanzierung auf dem Schlitten. Aber im letzten ­Moment verzichten beide. Heute sagt Daniel M. Epp, Tom sei damals einfach noch nicht gut genug, das Risiko zu gross gewesen. Diesen Verzicht legen die grossen Teamchefs als ­Feigheit aus, fortan ist Tom Lüthi für die Werkteams (Yamaha, Honda, Suzuki, Ducati) kein Thema mehr. Und er bringt nicht genug «Mitgift» (Sponsoren­gelder») für einen Platz in ­einem «Hinterbänklerteam» mit. Es gibt ja kommerziell auch keinen Grund, in die wichtigste WM auf­zusteigen. Als Siegfahrer in der zweithöchsten Klasse (Moto2) ist er in der Schweiz einer der populärsten Einzelsportler und kann mehr als eine halbe Million im Jahr verdienen. Aber den Traum von der «Königsklasse» gibt Tom Lüthi nie ganz auf. Denn nur wer dort oben fährt, ist ein ganzer Mann. Mag sein, dass sich das breite Publikum in der Schweiz nicht darum schert, in welcher Klasse Tom Lüthi über den Asphalt rockt – so lange er vorne dabei ist. Die Chance auf Spitzenplätze und WM-Titel und nicht die ­Kategorie zählt. Aber im GP-Zirkus ist eine Karriere halt erst vollkommen, wenn einer ganz oben fährt. 2016 bewährt sich der Emmen­taler immerhin erstmals bei offiziellen MotoGP-Tests für KTM bestens.

 

Na dann, prost!

Und nun betritt im August 2017 mit Marc van der ­Straten ein Graf und Bier­milliardär aus Belgien die Bühne in diesem grossen Gotthelf-Schauspiel. Seine Familie steht hinter dem grössten Bier-Imperium der Welt und er hat reichlich Zeit und Geld, um seiner Leidenschaft Motorsport zu frönen. 2010 kommt er mit seinem Team (Marc VDS) in den GP-Zirkus. Für die Saison 2018 hat er den zweiten Platz neben Franco Morbidelli für die Königsklasse zu besetzen. Er will den besten noch auf dem Markt erhältlichen Fahrer und verlangt keine Mitgift. Und dieser beste, erfahrenste Pilot ist im August 2017 ganz ohne Zweifel der von den grossen Werken verschmähte Tom Lüthi. Sein Traum «Moto- GP» wird kurz vor seinem 31. Geburtstag doch noch Wirklichkeit. 2018 wird er die MotoGP-WM fahren und insgesamt rund eine Million verdienen, etwas mehr als bisher. Aber es geht nicht um Geld. Es geht um die Erfüllung eines sportlichen Traumes. Ein Emmentaler steigt in die «Königsklasse» auf. Eine der wundersamsten Geschichten unseres ­Sportes.

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