Ducati Testastretta DVT
Desmodromic Variable Timing, kurz DVT, nennt Ducati sein neues variables Ventilsteuerungsprinzip.
Stolze 28 Jahre ist es her, seit der damals noch junge, angehende Ingenieur Massimo Bordi im Rahmen seiner Diplomarbeit bei Ducati die desmodromische Ventilsteuerung in Zylinderköpfen mit Vierventiltechnik und Wasserkühlung implementierte. Es war dies die Geburtsstunde des Desmoquattro-Antriebs, der in der legendären 851 seine Premiere feiern und fortan sämtliche Hypersportler aus Borgo Panigale in der Superbike-WM zu Ruhm und Ehre führen sollte.Einen gewaltigen Entwicklungsschritt machte der Desmoquattro-Motor im Jahr 2001 mit der Einführung des Testastretta-Prinzips (zu Deutsch: schmaler Kopf) in der exklusiven 996R. Speziell die Neuerungen in den Bereichen Einspritzung und Schmierung machten den Vierventil-V2 nicht nur leistungsstärker, sondern auch deutlich zuverlässiger und belastbarer. Die folgenden neun Jahre sollte der Testastretta-Antrieb bei Ducati ausschliesslich in Hypersportlern eingesetzt werden, bis 2010 die Multistrada 1200 auf den Markt kam. In ihr pochte der aus dem Superbike 1198 stammende und auf den Touring- bzw. Alltagsbetrieb ausgerichtete Testastretta-11º-V2. Und genau diese „11 gradi“ bringen uns zum Kern des vorliegenden Beitrags – erklären, warum Ducati mit dem Testastretta DVT einen Motor mit variabler Ventilsteuerung entwickelt hat.Die Krux mit der Ventilüberschneidung Zunächst muss man verstehen, was die ominösen „undici gradi“ oder 11 Grad zu bedeuten haben. Sie beziehen sich auf die so genannte Ventilüberschneidung, die jenen Bereich oder Zeitraum gegen Ende des vierten Taktes beschreibt, bei dem sowohl Ein- wie Auslassventile gleichzeitig geöffnet sind. Angegeben wird dieser Bereich bzw. Zeitraum in Grad Kurbelwellenumdrehung – hier also 11 Grad.Beim vierten, also dem Auspufftakt, stösst der sich zum OT hin bewegende Kolben die Abgase über die nun offen stehenden Auslassventile in den Auspuffkrümmer. Noch bevor die Auslassventile geschlossen werden, öffnen sich nun die Einlassventile, was dazu führt, dass von der beschleunigten Abgassäule im Auspuffkrümmer nicht nur der Brennraum von Abgasen sozusagen „leergesaugt“, sondern über den Unterdruck auch gleichzeitig frisches Benzin-Luft-Gemisch angesaugt wird. Die Ventilüberschneidung dient damit also sowohl einer besseren Füllung der Brennräume (mehr Leistung) wie auch einer effizienteren Abführung der Abgase.Bei herkömmlichen Viertaktmotoren ist die Ventilüberschneidung eine feste Grösse, die sich im Wesentlichen über die Steuerzeiten der Nockenwellen bzw. die Position der einzelnen Nocken ergibt. Grundsätzlich gilt: je grösser die Ventilüberschneidung, desto besser die Leistungsausbeute und desto schlechter allerdings die Rundlaufcharakteristik bei tiefen und mittleren Drehzahlen, das Drehmoment in diesem Bereich und generell die Linearität der Leistungsentfaltung. So wundert es nicht, dass – um bei Ducati zu bleiben – die 1198 mit grosszügigen 41 Grad Ventilüberschneidung arbeitet; die Panigale mit ihrem Superquadro-Twin gar mit 45 Grad. Hier sind Hochleistungsmotoren am Werk, bei denen im Prinzip egal ist, wie sie sich im unteren und mittleren Drehzahlbereich geben. Nicht so bei der Multistrada 1200, die in puncto Einsatzzweck ein sehr breites Spektrum abzudecken hat. 11 Grad Ventilüberschneidung schienen den Ingenieuren hier ein guter Kompromiss zu sein.Inzwischen ist man in Bologna jedoch nicht mehr bereit, sich mit einem Kompromiss zufrieden zu geben. Volle Superbike-Leistung bei untenrum geschmeidiger Fahrbarkeit, mehr Drehmoment in der Mitte, einer linearen Leistungsentfaltung und auch weniger Verbrauch lautet neu die Devise bzw. der Auftrag. Und genau hier kommt das neu entwickelte DVT zum Einsatz. Denn war die Ventilüberschneidung bis anhin durchs gesamte Drehzahlband jeweils konstant, wird sie durch variable Steuerzeiten zu einer anpassbaren Grösse. Das Besondere am Testastretta DVT: Er ist der erste Grossserien-Motorradantrieb, bei dem die Steuerzeiten sowohl an den Ein- wie an den Auslassventilen variabel sind (Honda VFR 800 VTEC nur einlassseitig), und überhaupt der erste Desmo-Motor mit dieser Technologie.