Denkst Du blöd – fährst Du blöd
Ein Beitrag über die Synergetik von Körper, Geist und Maschine. Die Macht der Gedanken reicht weiter als wir glauben: auch beim Töfffahren. Wir reden über Unfallprävention und Sicherheit auf dem Motorrad.
Man nähert sich einer unübersichtlichen Kurve, und das Bauchgefühl mahnt zu höchster Vorsicht. Und tatsächlich steht dort ein Traktor oder es wartet eine Ölspur. Unser «bewusst sein» hat uns vor einem Unfall bewahrt. Es lohnt sich also, seiner Gedankenwelt beim Töfffahren viel Aufmerksamkeit zu schenken – und doch redet davon kaum einer, wenn es um Unfallprävention und ums sichere Motorradfahren geht. Wagen wir einen Versuch.
Die Macht der Gedanken
Töfffahren ist in vielerlei Hinsicht anspruchsvoll: Es fordert höchste Konzentration, präzise Koordination und einen gut gelernten, automatisierten Bewegungsablauf, der mühsam erlernt werden will – Blickführung, Drücken mit den Hüften, den Oberkörper verlagern, mit den Beinen pressen, mal mit den Armen ziehen oder drücken, kuppeln, schalten … Das klingt anstrengend und tönt eigentlich so gar nicht nach Spass oder gar Erholung. Und doch ist das Gegenteil der Fall, aber warum? Es ist genau diese immense Konzentrationsarbeit, die bei derart komplexen Bewegungsabläufen unabdingbar ist, welche befreiend, ja entgrenzend wirkt. All die unzähligen Körperaktionen und mentalen Prozesse sind es auch, die eine Motorradfahrt so sehr von anderen Fortbewegungsmitteln unterscheiden. Denn nur die komplizierte Physik des Fahrens auf zwei Rädern mit der dafür notwendigen intensiven Mensch-Maschine-Interaktion führt nahezu zwangsläufig zu einerneuronalen Verschmelzung mit dem «Werkzeug Motorrad» – der Flow stellt sich ein: Das Motorrad transformiert sich und seine Besatzung. Es wird vom seelenlosen, emotionslosen Transportmittel (wie es die bfu gerne hätte) zum erweiterten Selbst. Fahrer und Maschine wachsen zusammen – bilden eine Einheit. Doch wie mit einem erweiterten Selbst klarkommen, wenn viele schon mit ihren Körpersignalen und der korrekten Selbsteinschätzung (Kästen rechts) überfordert sind? Nicht der Flow ist ein Problem für die Verkehrssicherheit, sondern die Master of Desaster, die sich selbst weder fühlen noch kennen und mit ihren eigenen Fähigkeiten in keiner realistischen Balance stehen. Beispiel? Für manchen gleicht die Fahrt durch die Applauskurve der Hausstrecke eher einer Ballonfahrt: Sie kommen aufgeblasen daher, mit hoch drehendem Motor – voll schräg, voll verkrampft und voll über ihrem fahrerischen Limit.
Ferngesteuert durchs eigene Leben?
Der Sportpsychologe und begeisterte Motorradfahrer Hans Eberspächer postulierte, dass niemand auf die Dauer sicher Motorradfahren kann, der nicht über eine realistische Selbsteinschätzung verfügt. Und die fängt schon beim Töffkauf an. In unserer Konsumgesellschaft ist es normal, etwas zeigen zu wollen, was man gar nicht ist, beziehungsweise was man glaubt, anderen zeigen zu müssen: Ueli Rüdisühli transformiert auf einer R1 mit der Startnummer 46 zum Rossi oder auf der Hardenduro im Rallyeornat zum Stéphane Peterhansel. Wir sind nicht bei uns selbst, sondern wir sind lieber, was man uns glauben macht, und wir vergleichen uns mit Idolen, anstatt an der besten Version von uns selbst zu arbeiten. Wer unter diesem gesellschaftlichen Phänomen der Einbildung leidet, ist latent gefährdet, sich in allen möglichen Lebensbereichen etwas zuzutrauen, das er eigentlich nicht kann. Damit werden glänzende Geschäfte gemacht: In den künstlichen Welten der Werbung macht dich das Parfüm XY zum feurigen Latin-Lover, in der Realität vielleicht zur Lachnummer. Doch was macht die viel zu schwere Reiseenduro mit dir? Womöglich einen Fall fürs Spital.
Wie fängt gutes Motorradfahren an?
Zuallererst mit der richtigen Motorradwahl! Die Frage, die man sich bereits beim Töffkauf unbedingt ehrlich beantworten sollte, ist die folgende: Weckt die Werbung für den PS-Boliden wahre Bedürfnisse in mir oder erzeugt sie falsche? Aber auch jede Töfffahrt sollte immer mit einer Reise zum eigenen Ich verbunden sein. Es lohnt: Nur wer diese Reise wagt, hat das Rüstzeug, von ungesunder Risikobereitschaft abzulassen und trotzdem die Emotionenhochkochen zu lassen – ganz nach Wunsch. So wird man vom Master of Töff- Desaster zum Meister. Dieses Motocoaching der etwas anderen Art soll dabei helfen.
Das unbeachtete Körpergefühl
Am Mittagstisch ein Fürstchen, unterwegs ein Würstchen: Kämen Sie auf die Idee, vor dem Waldlauf, dem Schwimmen oder einer anstrengenden geistigen Tätigkeit ein fettes, opulentes Mahl zu sich zu nehmen, um dann anschliessend das Äusserste von sich abzuverlangen? Die Antwort lautet doch wohl ziemlich sicher «nein». Warum aber schwingen sich dann so viele Motorradfahrer nach der Mittagspause in einer Beiz mit voll gespanntem Bauch auf den Töff? Pappsatt oder sogar mit überfülltem Magen ist man nicht nur bewegungsträge, man kann sich auch noch viel schlechter konzentrieren. Denn das Blut muss sich um den schwer beschäftigten Magen und den Darm kümmern. Die Unfallstatistik zeigt klar einen signifikanten Anstieg nach der Mittagszeit! Erschwerend kommt noch hinzu, dass vor allem im Sommer während der Motorradtour viel zu wenig getrunken wird. Bewusstes Trinken (TÖFF-Tipp: Camelbag umschnallen) mag lästig sein, doch es bewahrt uns vor riskanten Effekten: Denn wenn wir zu wenig trinken, verdickt sich unser Blut. Es gelangen weniger Sauerstoff und Nährstoffe zum Gehirn. Kopfschmerzen, nachlassende Vitalität und Aufnahmefähigkeit sind die Folge. Und was ist gefährlicher, als mit Konzentrationsproblemen Motorrad zu fahren? Genügend Pausen einplanen ist wichtig, sowohl kürzere als auch längere. Egal, ob man nun allein oder in einer Gruppe fährt: Fahrtunterbrechungen sollten in jedem Fall eingelegt werden – um ein paar Schritte zu gehen oder kurz die Beine hochzulegen, um etwas zu trinken (am besten Mineralwasser oder Apfelsaftschorle) und um eine Kleinigkeit zu essen. Ein belegtes Vollkornbrot und Obst heissen die Gegner des Hungers. Die opulente Mahlzeit sollte man lieber ans Ende der Tour verschieben. Schliesslich läuft ohne Energie auch beim Motor nichts.
Weg vom überhöhten Selbstbild!
Es sind keineswegs immer äussere Faktoren, die für Stress sorgen, sondern überraschend oft macht ihn sich der Mensch selbst. Das gilt wie sonst im Leben auch beim Töfffahren: Zu hoch gesteckte Ziele und Ansprüche an sich selbst und Gruppenzwang gehen einher mit Stress und haben ihre Ursache in einem falschen (überhöhten) Selbstbild. Nicht wenige halten das Echo ihrer ausgeräumten Auspuffanlage in der Showkurve für Applaus: Eine Umfrage in den USA hat ergeben, dass rund 80 Prozent der Autofahrer sich zu den besten fünf Prozent zählen. 80 Kandidaten für die besten fünf Plätze – da kann doch was nicht aufgehen! Die korrekte Selbsteinschätzung zu jedem Moment der Töfftour, zu jedem geplanten Fahrmanöver und ein gutes Körpergefühl (siehe oben) machen den Motorradprofi aus und nicht etwa der Schräglagenwinkel beim Durchfahren der Kurve. Nur wer sich generell über sein tatsächliches Können, seine Defizite und seine Tagesform bewusst ist, kann durch eigene klare Regeln und Vorsätze das Unfallrisiko eingrenzen. Es tönt sehr einfach, «ein Auge auf sich zu haben», jedoch selbst der routinierteste Töfffahrer ertappt sich manchmal bei Fehleinschätzungen. Deshalb sollte man sich während der Fahrt immer wieder folgende Fragen stellen: Bin ich müde oder euphorisch, fahre ich über meine Verhältnisse? Ein hilfreiches Instrument ist hierbei der Fehlerzähler nach Bernt Spiegel: Wenn man die Ideallinie verbeutelt oder ein anderer Murks gebaut wurde, drücke man mit dem Daumen z.B. auf den Schraubenkopf der Rückspiegelbefestigung und quittiere in Gedanken den Fauxpas. Häufen sich die Fehler, so ist das ein Alarmzeichen. Eine gute Selbstkontrolle, aber nur wer Fehler erkennt und mit sich selbst ehrlich ins Gericht geht, kann sich verbessern.
Gruppendynamik – hinterher um jeden Preis?
Blindes Hinterherfahren, Fixieren des Hinterreifens des Vorausfahrenden … man wiegt sich in der «Sicherheit des Vordermanns» und zieht einfach hinterher: Der Kollege vor einem überholt, der Gegenverkehr oder die unübersichtliche Kurve ist schon bedrohlich nah, und dennoch folgt man wie von einem Magneten gezogen. Überholen oder nicht? Schnell fahren? Pausieren? Fehlentscheidungen sind oft Folge eines Gruppenzwangs. Denn was alle machen, kann doch nicht falsch sein! Oder doch? Denn mit Freunden unterwegs, gibt man sich Dummheiten hin, die man ohne sie niemals begangen hätte – nur um sich keine Blösse zu geben. Das Fahren in der Gruppe birgt also weit höhere Risiken, als wenn man alleine fährt. Auch hier haben wir es mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun, denn es ist für viele Menschen schwer, in Gruppen die eigene Überzeugung offen zu äussern; und zwar umso mehr, wenn sich die überwiegende Mehrheit auf eine andere Meinung eingestimmt hat. Die meisten Menschen fügen sich bereitwillig der Mehrheit, selbst wenn diese der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung widerspricht. Beim Motorradfahren kann dies fatale Folgen haben: Sie haben zum Beispiel ein mulmiges Gefühl, am Kolonnenverkehr vorbeizuschlängeln oder fühlen sich nicht wohl, dauernd zu überholen. Lassen Sie es! Und: Wer bei einem Gruppenmitglied bestimmte Fahrfehler oder Schwächen erkennt, sollte diese offen ansprechen. Nur so lernt man voneinander.
Alles eine Frage des richtigen Blickwinkels
Guckst du blöd, fährst du blöd: Überall wird einem erzählt, man müsse die anderen Verkehrsteilnehmer im Auge haben. Das stimmt aber nur bedingt. Man sollte besser sagen, «man sollte auf die Lücke achten, die einem die anderen Verkehrsteilnehmer lassen». Denn da, wo man hinschaut, fährt man auch hin. Das sogenannte «Figurgrundphänomen» ist wissenschaftlich belegt: Wenn sich auf dem Trottoir zwei entgegenkommende Passanten gegenseitig anschauen, rempeln sie unweigerlich zusammen. Und im Strassenverkehr ist das genauso. Wer das nasse Laub, das unerwartet in einer Kurve auftaucht, erschrocken fixiert, anstatt mit kühlem Kopf den freien Teil der Fahrbahn, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit genau dort stürzen. Oder nehmen wir zum Beispiel die Standard- Übungen bei jedem Sicherheitstraining. Man darf nicht den Pylon als Figur sehen, auf den sich das Handeln bezieht, sondern den Raum dazwischen. Und eine Kurve kann man bloss sauber fahren, wenn man (weit) nach vorne schaut, wohin die Fahrt gehen soll. Insbesondere bei Gruppenausfahrten deshalb seine eigene Linie scannen und nie das Hinterrad des Vorausfahrenden fixieren!
Mentales Training: Gedanken sind Kräfte – gutes Motorradfahren beginnt im Kopf, schlechtes auch
Routine macht nachlässig: Weil man seine Hausstrecke im Schlaf kennt, wird man oft übermütig, ist nicht bei der Sache und ignoriert bestimmte Gefahrenquellen. Weshalb viele Unfälle gerade dort passieren, wo man glaubt, sich besonders gut auszukennen. Plötzlich, überraschend, bedrohlich: Diese drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit es zum Schreck kommt. Dieser blockiert uns in unserem Handlungsspielraum (man fühlt sich wie gelähmt, wie der Hase, welcher der sprichwörtlichen Schlange ins Auge blickt). Wenn es gelingt, nur eine dieser Voraussetzungen auszuschalten, ist die Gefahr gebannt. Das ist der Grund, warum bei Fahrtrainings bestimmte Situationen systematisch geübt werden. Der gut Trainierte wird seltener erschrecken, denn er erlebt eine viel geringere Zahl von Ereignissen als bedrohlich. Gedanken sind Kräfte: Wer nicht auf Lücke, sondern auf Objekt programmiert ist (Kasten Blickführung), setzt nicht wie der Fahrer der gelben BMW im Bild auf die Flucht ins Gelände, um eine folgenreiche Frontalkollision zu vermeiden. Mentales Training hilft, in derartigen Situationen das Richtige tun zu können: Durch intensives Vorstellen kann man sich also z.B. immer wieder mit einer schreckauslösenden Situation konfrontieren und die richtige Blickführung sowie den richtigen Handlungsablauf mental einüben. Jede Vorstellung einer Bewegung löst im Vorstellenden eine Tendenz zur Ausführung eben dieser Bewegung aus (Carpenter-Effekt). Im ersten Schritt baut man eine zweckmässige Vorstellung dessen auf, was man zu trainieren beabsichtigt. Man denkt beispielsweise an so haarige Situationen, die zum Unfall auf dem Foto geführt haben: Man hat schon alle Register bezüglich Ausweichen und Bremsen gezogen, aber es reicht dennoch nicht, vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis zum Stehen zu kommen. Dann kann, sofern die Strasse nicht durch Leitplanken begrenzt ist, die Flucht ins Gelände Schlimmeres verhindern. Selbst ein Ritt durch den Strassengraben ist meist besser als eine Frontalkollision. Bevor man im Ernstfall jedoch den Asphalt verlässt, gilt es, noch so viel Geschwindigkeit wie möglich abzubauen. Bei Gedankentrainings muss man nicht wie beim realen Training innehalten, weil die Situation zu gefährlich würde. Das ist die grosse Möglichkeit des mentalen Trainings.
Literaturtipp hierzu: Motorradfahren mental trainiert, Hans Eberspächer, ISBN-13: 978-3613031609.
11 Tipps für besseres Fahren
1. Entspanntheit und Gelassenheit: Das sind die zwei Rezepte für Freude. Egal, bei welcher Sache.
2. Tu es für dich: Egal, ob es sich um den Motorradkauf oder um ein Überholmanöver handelt: Tu es für dich selbst und nie für die anderen!
3. Selbstbeobachtung: Sind die Lippen vor der Kurve zusammengekniffen, beisse ich die Zähne zusammen, sind die Pobacken angespannt? Das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass das persönliche fahrerische Limit bereits überschritten wurde. Bin ich euphorisch oder müde? Der Fehlerzähler hilft bei der realistischen Selbsteinschätzung.
4. Selbstkritik statt Objektkritik: Wir alle neigen dazu, Fehler, die uns unterlaufen, sind erst einmal nicht bei uns selbst zu suchen, sondern mit einem Gegenstand oder einer Person, die mit der Handlung in Zusammenhang stand: «Meine miesen XY-Pneus sind schuld», «da war Laub», oder «der vor mir fuhr so eine komische Linie». Üben Sie statt Objektkritik lieber Selbstkritik! Denn jeder ist für sein Tun verantwortlich und keiner fehlerfrei. Gewöhnlich ist Objektkritik am meisten zu beobachten, wenn Überforderung droht. Also: Gestehen Sie sich Fehler ein und arbeiten Sie an den Ursachen, die bei sich selbst zu suchen sind.
5. Bauchgefühl: «Ich weiss nicht, warum – aber ich habe das Gefühl, ich sollte dieses oder jenes nicht tun». Hören Sie unbedingt darauf!
6. Körpergefühl: Hunger, Durst, Schwitzen, Frieren usw. Körpersignale beeinflussen Ihr Fahrvermögen.
7. Vergleiche dich mit dir selbst: Sich stets mit anderen zu vergleichen, ist eine todsichere Strategie für ein hohes Unfallrisiko. Mach nur, was du kannst und versuche da nach und nach, Zuverlässigkeit und Präzision hineinzubringen. Arbeite an der besten Version von dir selbst, anstatt irgendeinen Kollegen oder ein Idol nachzuäffen. Nur so lassen sich seine eigenen Limits möglichst risikoarm erweitern.
8. Blickführung: Auf die Lücke, nicht auf das Hindernis schauen. Scannen Sie immer Ihre eigene Linie – nie den Blick ans Hinterrad des Vordermanns heften.
9. Mentales Training: Spielen Sie bestimmte Schrecksituationen immer wieder in Gedanken durch.
10. Vernetzt denken: Ein Beispiel dafür ist unsere eigene Silhouette als langer Schatten voraus. Die Sicht könnte besser nicht sein, mit der Sonne im Rücken. Aber je länger der Schatten ist, desto weniger kann uns ein Entgegenkommender erkennen.
Literaturtipp: Die obere Hälfte des Motorrads, Bernt Spiegel, ISBN-13: 978-3613033863.
Beitrag von Michael Kutschke aus der Ausgabe 03/2015 vom TÖFF-MAGAZIN.Fotos: Depositphotos, Archiv Désirée Troxler