Feuer im Eis
In eigener Sache: «Fürs Fernweh …»
An Ferien zu denken, regt an, jedoch an die Urlaubsplanung traut sich momentan wohl kaum jemand ran, weil einfach zu unklar ist, wie lange die Corona-Notlage anhält. Wer dennoch unter Fernweh leidet, kann jetzt und hier mit uns träumen. Irgendwann werden wir ja wieder reisen können. Und Vorfreude soll ja die bekanntlich schönste Freude sein. Satteln Sie also in Gedanken Ihren Töff und kommen Sie mit auf unsere besten Trips, die wir im TÖFF und MSS-Archiv gefunden haben.Viel Spass beim Schmökern.
Feuer, Erde, Wasser, Luft … Island: Unvollendetes Sehnsuchtsland mit Beziehungen zur Unterwelt und 14’000 Kilometern Schotterpisten.
Da ist er also, der Moment, auf den ich seit Wochen hingefiebert habe. Eine traumhafte Kulisse mit idyllischen Fjorden, glasklaren Seen und schroffen Felsformationen taucht aus dem arktischen Ozean auf. Island, die herb-schöne Insel am nördlichen Polarkreis, zieht mich sofort in ihren Bann. Was für ein Land, am Rande Europas – wild, rau, einzigartig, monumental. Sattgrüne Wiesenlandschaften und umbrandete Küstenfelsen ziehen unter den Tragflächen vorbei. Imposante Wolkentürme tauchen die Insel in ein betörendes Lichtspiel. Zwischen schwarzen, schroffen Bergmassiven zeigen sich mäandernde Flüsse, von einer Farbe, als wäre einem Bergtroll die Milchkanne umgekippt … dazu endlose Weiten – kein Baum, kein Grün soweit das Auge reicht.
Island ist bis auf den grünen Küstenstreifen so wüst und leer, so steinig und schwefelig, dass dort die NASA für die Mondlandung trainieren liess. Dann geht es minutenlang im Sinkflug über den Vatnajökull-Gletscher, mit 8300 km² Europas grösster und der drittgrösste der Welt. Ohne auch nur einen Kilometer auf meiner ersten Motorradtour im hohen Norden gemacht zu haben, bekomme ich mit, dass hier selbst das Wetter den Extremen frönt: Urplötzlich schütteln heftige Turbulenzen den Flieger, dann setzt schlagartig Platzregen ein, es ist nichts mehr zu sehen, ausser Grau.
Es gibt kein schlechtes Wetter …
Nur 20 km südwestlich von Reykjavik fängt es an zu regnen. Wir sind unterwegs zur Halbinsel Reykjanes. Gestern habe ich die Teilnehmer der Edelweiss-Tour «Fire and Ice» getroffen, und wir sind bei strahlendem Sonnenschein und 21 Grad noch etwas durch die Strassen von Reykjavik gestreift. Nun meldet der Bordcomputer gerade mal sechs Grad Lufttemperatur. Aber ich bin für das subarktische Klima bestens gewappnet: Wasserdichte Textilien und sogar eine elektrisch beheizbare Weste halten mich trocken und mollig warm. Darum heisst es für mich jetzt einfach nur noch geniessen, egal, was kommt, egal, welches Wetter mich erwartet. Meine Abneigung gegen Nässe und Kälte ist eines – meine unbändige Neugier auf Unentdecktes und meine Vorliebe für Off-Road- Abenteuer abseits der Zivilisation etwas anderes. Und Island hat davon jede Menge zu bieten, zum Beispiel Schotterpisten aller Schwierigkeitsgrade – etwa 14 000 km der Inselstrassen sind nicht asphaltiert.
30 Minuten später: Der Regen hat aufgehört. Jetzt treibt ein eiskalter Wind fette Wolken tief über unseren Helmen dahin. Da! Inmitten der unwirklichen Mondlandschaft aus Lavagestein taucht sie plötzlich auf, die «Brücke zwischen den Kontinenten». Wir werden zu Reisenden zwischen Europa und Amerika. Denn hier treffen die Kontinentalplatten aufeinander, beziehungsweise sie driften auseinander, und zwar zwei Zentimeter pro Jahr. Kein Land auf der Welt liegt auf so bewegtem Untergrund. Die ganze Insel wird von einer riesigen unterirdischen Magma-Blase getragen.
180 Kilometer Einsamkeit
Der nächste Morgen beginnt mit Nieselregen aus strukturlosem Himmel. Wir stehen an der N1 in Selfoss, füllen die Tanks und fiebern unserer ersten längeren Pistenetappe entgegen. Die Stadt liegt an der weitgehend asphaltierten Ringstrasse N1, auf der man die Insel bequem umrunden könnte. Das Edelweiss- Roadbook hat Besseres in petto. Denn richtig spannend wird Island auf den abenteuerlichen Pisten im zentralen Hochland. Und deshalb biegen wir gleich nach dem Tankstopp auf die Hochlandpiste 35, die Kjölur-Route, ab. Und da gibt es nur wenige Möglichkeiten zu tanken.
Inzwischen hat das Wetter mal wieder gewechselt – wir haben jetzt blauen Himmel. Man erlebt hier praktisch alle heimischen Jahreszeiten im Zeitraffer: Sonne und Wolken, blauer Himmel, jede Menge Regen … Sturm, Nebel und Temperaturen im Bereich von mittleren einstelligen bis über 20 Grad. All das, mehrmals am Tag und jeden Tag aufs Neue.
Wir haben Glück, dass sich der Nebel verzogen hat, denn die Piste 35 ist eine der bekanntesten isländischen Transversalen: 180 km Einsamkeit auf einer Schotterpiste warten. Und die erfüllt nicht etwa nur Enduristen-Sehnsüchte nach losem Untergrund, hier sind auch einige der berühmtesten Sehenswürdigkeiten Islands zu sehen: Geysire, heisse Quellen und Wasserfälle. Weit schweift mein Blick über tiefschwarzen Graphit, der von einem sattgrünen Moosteppich überzogen ist. Eine Komposition zwischen Harmonie und Dramatik, wie sie für Island typisch ist, tut sich auf: Die vielfältigen Grünschattierungen werden plötzlich von einem breiten Wasserlauf durchbrochen. Der Fluss Hvítá fliesst hier in weitläufigen Kurven in ein Kaskadenbecken. Dann stürzen die Wassermassen mit lautem Donnerhall in zwei Stufen in eine 32 Meter tiefe Felsspalte.
Und die Erde war wüst und leer …
So steht es in der Bibel. Je länger wir fahren, umso karger und unwirklicher wird die Landschaft. Langsam klettern unsere Motorräder über die letzten Stufen eines mächtigen Lavafeldes, als sich vor uns das Hochland öffnet, die grösste Wüste Europas. Die Gravel-Road verläuft zwischen den eisblauen Gletschern Langjökull und Hofsjökull hindurch. Die umrahmenden Berge sind mal tabakbraun, mal mausgrau bis tiefschwarz und bilden die natürliche Begrenzung der mächtigen Gletscher – was für ein Kontrast!
Über Stunden geniessen wir die vorbeiziehende und vegetationslose Wüstenlandschaft mit ihren herrlichen Ausblicken auf diese so seltsam entrückte Welt. Am Mittag tauchen endlich die heissen Quellen von Hveravellir auf. Halbzeit auf der Kjölur. Mit seinen rauchenden, heissen Dampfquellen und kochenden Bächen ist Hveravellir eines der schönsten geothermischen Gebiete der Welt. Ich geniesse ein heisses Bad im Hotpot, am Horizont das ewige Eis und um mich herum blubbernde, kleine Krater, die irgendwo im wüsten Gelände Schwefel oder anderes Übelriechendes aus der Erdgeschichte nach oben bringen.
Als am Ende der 300-km-Etappe vor Sauðárkrókur plötzlich üppige Vegetation das Helmvisier ausfüllt, kommt es mir vor, als habe die Abgeschiedenheit und die majestätische Kargheit des Hochlandes etwas in mir verändert. Wie elektrisiert inhaliere ich die herbe Island-Frische des nahen Ozeans, die sich mit dem würzigen Aroma von saftigem Gras und dem Geruch der am Wegesrand weidenden Schafe und Kühe mischt. Die hinter uns liegende Stille und Kargheit, die unfassbare Vielfalt an Formen und Farben und die ständig wechselnden Eindrücke des Hochlandes stehen im krassen Gegensatz zu diesem Reichtum und der sattgrünen Fülle.
Feuer, Erde, Wasser, Luft …
Nach sieben Fahrtagen bin ich schon wieder in Reykjavik – ein vorzeitiger und unfreiwilliger Ausstieg aus der Edelweiss-Tour – mein Flieger wartet, Termine. Leider! Eigentlich habe ich von meinem hektischen 777-km-Alleingang ab Egilsstaðir nicht viel erwartet. Doch hier im Osten Islands, an der Ringstrasse N1, fallen die Berge steil ins Meer ab, und entsprechend kurvenreich ist die Strecke, denn die Strasse muss der Küstenlinie folgen. Ein Traum!
Umso erstaunter bin ich, als ich hinter Höfn den Vatnajökull-Gletscher erreiche. In der Gegend von Skaftafell kann ich nicht mehr anders: Ich biege trotz meines Termindrucks gleich mehrmals von der Rundstrasse N1 ab. Schotterpisten führen ganz nahe an den Fjalllsjökull- und Svinafjallsköll-Gletscher. Es ist beeindruckend, vor so mächtigen Eismassen zu stehen. Und doch sind diese ins Meer kalbenden Gletscher nur Seitenarme vom riesigen Vatnajökull. Ein Highlight! Vielleicht sogar das Schönste, was ich auf meiner verkürzten Reise an Natur habe sehen dürfen.
Und doch nehme ich auch noch anderes mit nach Hause: Zum Beispiel, worauf es beim Durchqueren von Wasserläufen mit dem Motorrad ankommt: Nie an der schmalsten und damit tiefsten Stelle furten. Niedriger Gang, langsame und konstante Geschwindigkeit. Oder das beeindruckende Erlebnis mit dem Wal, dem ich bei Húsavík direkt ins Auge blicken konnte … Auch die blubbernden blaugrauen, nach Schwefel stinkenden Schlammpötte und die Fontänen heissen Dampfes kurz hinter Reykjahlid bringen mich ins Schwärmen – inmitten einer Landschaft, deren Farbenpalette von Weiss über Gelb, Beige, Orange bis zu kräftigem Rotbraun reicht.
Und auch die Wüstenlandschaft, die ich noch gestern auf der Piste 901 durchquerte, hätte auch irgendwo im südlichen Afrika sein können. In Form von Sturm und rabiaten Böen erhebt sich als letztes Element meiner Reise die Luft: Winde von mehr als 100 km/h drohen, die Triumph an der Tanke in Vik umzuwerfen. Auf Island ist eben die ganze Kraft der Erde erfahrbar. Im Guten wie im Schlechten. Das Eiland ist mein Sehnsuchtsland geworden. Ein Enduro- Paradies, menschenleer und wild. Island: Das ist Wellness für die Seele und lässt mir die Welt in neuem Licht erscheinen.