Test: Michelin Power 6, Power GP2 und Anakee Road
Gleich drei neue Gummipaarungen hat der Reifenspezialist Michelin an der EICMA vorgestellt. Power 6, Power GP2 und Anakee Road zielen auf zentrale Volumensegmente und sind für die Franzosen entsprechend Systemrelevant. Erster Test auf der Strasse bzw. Rennstrecke.
Adventure-Motorräder stehen derzeit hoch im Kurs, wobei hier der Reifenmarkt zwischen 2014 und 2023 um satte 60 Prozent gewachsen ist. In den Stammmärkten Europa und USA wurde bei den beliebten Multitools am Gesamtmarkt entsprechend ein Absatz von rund 930’000 Reifen erzielt. Und weil der mit Abstand grösste Teil der Adventure-Piloten Africa Twin, GS und Multistrada & Co. eben doch primär auf der Strasse bewegt, hat Michelin reagiert und den neuen Anakee Road kreiert. Dieser ist auf 90 Prozent Strasse und 10 Prozent Gelände ausgelegt, wogegen der bestehende Anakee Wild mit einem Verhältnis von 50:50 aufwartet und der Anakee Adventure für 80 Prozent Strasse bzw. 20 Prozent Gelände optimiert ist.
Auf der Strasse spielt die Musik
Man darf allerdings nicht ausser Acht lassen, dass der Markt für Sportmotorräder jenen der Adventures nach wie vor um Längen in den Schatten stellt. In den besagten Stammmärkten sprechen wir hier von einem Volumen von rund 1,85 Millionen Reifen. Michelin tut also gut daran, insbesondere im sportlichen Strassensegment mit seinen Entwicklungen Gas zu geben. An Know-how mangelt es den Franzosen dabei ganz bestimmt nicht, sind sie doch seit 2016 Alleinausrüster in der MotoGP.
Am meisten Potenzial dürfte dabei der neue Power 6 mitbringen. Er ist eine Weiterentwicklung des Power 5, welcher im Sortiment bleiben wird. Das Konkurrenzumfeld sieht Mitbewerberprodukte wie Pirelli Diablo Rosso IV, Metzeler Sportec M9 RR und Dunlop Sportsmart MK3 vor. Interessant ist sicherlich, dass Michelin den Power 6 auch in der Dimension 240/45 und damit im bis dato Pirelli vorbehaltenen Ducati-Diavel-Format anbietet. Zudem ist der Power 6 in 150er-Spezifikation verfügbar, was Supermotofans freuen dürfte.
Eine gut gewürzte Portion sportlicher wurde – als Weiterentwicklung des Power GP – der neue Hypersportgummi Power GP2 gebacken. Er soll etwa dem Pirelli Diablo Rosso IV Corsa, dem ebenfalls taufrischen Bridgestone Battlax S23 oder dem Dunlop Sportsmart TT Marktanteile streitig machen. Und während der Power 6 praktisch voll auf die Strasse fokussiert, soll der Power GP2 durchaus auch an Trackdays gewinn- bzw. spassbringend einzusetzen sein. Und aus genau diesem Grund serviert uns Michelin diesen Hypersportreifen neben der Landstrasse auch auf dem Circuito de Jerez.
Die Technik – Michelin Power 6
Bevor wir nun alle drei Michelin-Neuheiten – die Preise sind im Fachhandel anzufragen – auf der Strasse bzw. dem Track für euch durchchecken, wollen wir noch ins Innere der neuen Kreationen blicken.
Der für sämtliche Naked-Gattungen und Supersportler ab 300 ccm bestimmte Power 6 wird von Michelin als Flaggschiff der Power-Reihe bezeichnet. Die Karkasse besteht aus Aramid-Gürtellagen in 90-Grad-Anordnung. Aramid ist teurer, aber circa um das Zehnfache leichter als Stahl-Cords. Der grosse Vorteil liegt in den reduzierten rotierenden Massen und damit in einem luftigeren Handling. Über der Karkasse sind verschiedene Silika-verstärkte Gummimischungen nach dem Schnittmuster 2CT+ aufvulkanisiert. Will heissen, dass in der Laufflächenmitte zwecks Stabilität und optimierter Laufleistung ein härterer Compound zum Einsatz kommt, der unter dem weicheren, für mehr Kurvengrip sorgenden Gummi an den Schultern durchläuft und quasi unterirdisch bis zu den äusseren Rändern der Laufflächen reicht. Das asymmetrische Profil mit grosszügigen Slick-Zonen an den Schultern umfasst einen Anteil von 11 Prozent an der Gesamtlauffläche (Negativprofilanteil). Die Resultate sollen laut Michelin eine kürzere Warmlaufphase, ein optimiertes Schräglagenverhalten mit ausgewogener Balance und mehr Agilität sein – bei notabene gleicher Laufleistung. Wobei die neue Profilierung auf gute Kontrolle sowohl im Trockenen und insbesondere bei Nässe ausgelegt sein soll.
Michelin Power GP2: Know-how aus der MotoGP
Den sportlicheren Power GP2 hat Michelin – mit viel Know-how aus der MotoGP – für den Rennstreckeneinsatz entwickelt, er ist dennoch für die Strasse homologiert. Der Negativprofilanteil beträgt hier lediglich 6,5 Prozent, und der Unterbau umfasst ebenfalls Aramid-Gürtellagen, die sich nach einem Geheimrezept von jenen des Power 6 unterscheiden. Ein weiterer Unterschied zum Power 6 besteht darin, dass der GP2 hinten zwar sehr wohl auch mit der Technologie 2CT+ anrollt, hier der Flankengummi jedoch mit dem Füllstoff Russ statt Silika ausgeführt ist. Das gibt den Reifen unter starker Belastung und entsprechender Hitzeentwicklung mehr Stabilität – der Silika-verstärkte Compound würde früher oder später wegschmieren. Vorn haben wir es dagegen mit einer 2CT-Konstruktion (ohne +) zu tun. Sprich, ein Silika-verstärkter Compound in der Mitte und ein Russ-verstärkter Compound an den Schultern ohne Silika-Unterbau.
Und wenngleich der GP2 primär für trockene Verhältnisse entwickelt wurde, schreibt ihm Michelin eine gute Performance auch bei Nässe zu. Weitere USP des GP2 sind laut Michelin eine höhere Kurvenstabilität und Traktionsleistung bei starker Beschleunigung, selbst bei fortgeschrittener Schräglage, ein performantes und gleichmässiges Bremsverhalten aus hohen Speeds sowie eine kurze Warmlaufphase. Entsprechend seien für den Rennstreckeneinsatz auch keine Reifenwärmer erforderlich, so Michelin.
Adventures auf dem Asphalt
Als ausgewiesenen Strassenspezialisten für Alltag, Urlaub und Tagestouren bezeichnet Michelin den Anakee Road. Mit seinem Offroad-Look soll er optisch dennoch gut zu den Adventures – empfohlen ab 600 Kubik – passen. Technisch orientiert sich der Anakee Road am «klassischen» Road 6 und ist ebenfalls mit der 2CT+-Technologie ausgestattet. Michelin verspricht bei ihm einen optimalen Nassgrip bei starker Laufleistung und bietet den Anakee Road – etwa für Multistrada V4 und 1290 Super Adventure – auch mit W-Geschwindigkeitsindex an.
Anakee Road: ausgewogen
Wir beginnen beim Praxistest auch gleich mit dem Anakee Road, und ich schnappe mir eine BMW R 1300 GS. Auf einem bewässerten Handling-Kurs fahren wir Slalom, weichen Hindernissen aus, beschleunigen hart und gehen mit rund 70 Sachen auf einem benässten Rutschbelag voll in die Eisen. Gerade bei dieser Disziplin staune ich Bauklötze: Die GS ist ja nicht gerade leicht, dennoch wird der Anakee Road – die GS voll im ABS regelnd – mit dieser kniffligen Aufgabe richtig gut fertig. Die Verzögerungswerte sind bombastisch, die Bremsstabilität astrein und der Bremsweg als Resultat erstaunlich kurz! Das schafft richtig viel Vertrauen. Und als mir die GS beim harten Beschleunigen aus einer engen, staubigen Kehre hinten weggeht, passiert dies sehr geschmeidig und damit gut kontrollierbar.
Generell ist der Anakee Road ein sehr ausgewogener Reifen. Sowohl auf R 1300 GS, Multistrada V2 wie auf 1290 Super Adventure lenkt er sehr homogen ein, bleibt in Schräglage vorbildlich auf Kurs, stellt sich beim Bremsen im Eck nicht auf und bietet zudem eine hervorragende Eigendämpfung. Gerade die GS wird so zum komfortablen Speed-Fauteuil. Und zwar ohne, dass Präzision und Feedback darunter leiden würden. Kompliment!
Michelin Power 6: Härtetest auf dem Circuito
Es ist noch kühl am Morgen des zweiten Fahrtags, als ich mich zwecks Tracktest des Power 6 auf eine S 1000 RR schwinge. Ich habe es hier mit einem Strassenreifen zu tun, also beschliesse ich, es vorerst locker angehen zu lassen. Ich reihe mich direkt hinter dem Instruktor ein und bemerke, dass dieser schon ein ganz anständiges Tempo vorgibt. «Was bei ihm geht, geht auch bei mir», denke ich und folge ihm. Zwei Runden später ist der Rest der Gruppe in den Rückspiegeln verschwunden, und ich staune über die Track-Performance einer Reifenpaarung, deren Einsatzspektrum nur 10 Prozent Rennstrecke vorsieht. Natürlich ist der Power 6 auf der Bremse nicht so knackig wie ein Rennstreckenreifen und wirkt beim harten Ankern schwammig, aber das Einlenkverhalten ist sehr homogen, berechenbar und doch präzis. Die S 1000 RR liegt neutral im Eck, und am Kurvenausgang versteht es sich von selbst, dass die Drosselklappen nicht auf einen Schlag auf vollen Durchzug gestellt werden dürfen. Vielmehr ist jene Fahrweise angesagt, die wir in jener Zeit kultivierten, als es noch keine Traktionskontrollen gab.
Wenn es dem Power 6 dann doch zu viel wird, kündigt er dies transparent an und schmiert sanft weg. Beim zweiten Morgen-Turn – erneut auf Power 6 und S 1000 RR sitzend – blinkt das Symbol der Traktionskontrolle (Modus Dynamic) dann doch sehr oft auf, wobei die Bayerin am Kurvenausgang recht viel Zunder rausnimmt. Klar, ich könnte auf den Race-Mode wechseln und die Eingriffe der Traktionskontrolle reduzieren, neue Erkenntnisse würde das aber nicht bringen. Dennoch erstaunlich, was heute auf einem GP-Kurs mit einem «normalen» Strassensportreifen drin liegt. Für Track-Novizen der Einsteiger- und ggf. der mittleren Gruppe durchaus eine Option.
Michelin Power GP2: Schärfer, knackiger, mehr Grip
Jetzt aber zum Power GP2: wieder auf der S 1000 RR, wieder im Dynamic-Modus. Und aha, jetzt sieht die Welt doch anders aus! Die Bayerin gibt sich auf der Bremse deutlich knackiger, präziser und sie liefert mit dem GP2 auch eine eindeutig klarere Rückmeldung. Ich habe mehr Vertrauen und lasse auch mehr Schräglage zu. Am Kurvenausgang gibt die RR deutlich mehr Power frei, und sie lupft auch mal freudig das Vorderrad. Generell ist auch die Performance innerhalb des 20-Minuten-Turns konstanter, sprich, der GP2 leidet deutlich weniger unter hoher Hitzeentwicklung. Insgesamt ein richtig starker Reifen mit Reserven auch bei Hypersportlern mit 200 PS für den spassgeladenen Trackday. Subjektiv würde ich sogar sagen, dass der GP2 hinsichtlich Rundum-Performance von einem Pirelli Diablo Supercorsa SP gar nicht allzu weit weg ist. Und auch er nimmt wie der Power 6 schnell Temperatur auf.
Power 6 und Power GP2 auf der Landstrasse
Nach dem Rennstreckentest stehen jetzt noch 130 Landstrassenkilometer mit den Power-Gummis an. Und zwar starte ich mit einer Power-6-besohlten Aprilia Tuono 660. Am ersten Fotostop wird getauscht, und ich richte mich erneut auf einer Tuono 660 ein, allerdings mit Power-GP2-Bereifung. Später folgt dieselbe Tauschprozedur noch mit zwei Yamaha MT-07.
Die Unterschiede sind auf der Strasse freilich nicht so offensichtlich wie auf dem Track. Dennoch ist auszumachen, dass der GP2 etwas luftiger einlenkt und etwas mehr Rückmeldung gibt. Das Gripniveau ist bei beiden Power-Gummis auf Topniveau. Festzustellen war dies insbesondere, als unsere hochmotivierte Guide-Lady auf einer etwa 10 Kilometer langen Passage auf gezeichnetem und staubigem Untergrund richtig Asche gab. Zunächst begleitete mich ein mulmiges Gefühl, doch dann lief alles wie am Schnürchen.
Auch auf der Strasse gilt: sehr harmonische, gutmütige und performante Reifen, wenngleich sie bei der Eigendämpfung doch als sportlich und damit straff zu klassieren sind. Unter dem Strich ist aber weder beim Power 6 noch beim GP2 etwas aufgefallen, was manifeste Kritik rechtfertigen würde.
Michelin-Neuheiten 2024 – das Fazit
Mit dem Anakee Road, dem Power 6 und dem Power GP2 hat Michelin drei High-Performance-Premiumreifen entwickelt. Jeder Gummi erzielt im jeweils definierten Einsatzgebiet Spitzenwerte. Die Franzosen haben damit neue Produkte im Portfolio, welche ihre Position in zwei der drei wichtigsten Reifenmarktsegmente ganz klar stärken werden.
Info: www.michelin.ch