MV Agusta goes China – Erklärungsversuche
MV Agusta kündete kürzlich eine neue Partnerschaft mit dem chinesischen Motorengiganten Loncin an. Darin sollen MV-Agusta-Motorräder mit kleinen Hubräumen für den asiatischen Markt entstehen und MV will sein Know-how mit den Chinesen teilen. Ein Kommentar (Meinungsbeitrag).
MV Agusta sorgte in den vergangenen Jahren vermehrt für Schlagzeilen. Nachdem die Italiener mit den 675 ccm und 800 ccm Dreizylinder-Plattformen versuchten, ein breiteres Publikum anzusprechen gerieten sie in arge Geldnöte. Das führte zuerst dazu, dass sowohl die 675er als auch die 800er-Plattform „zu früh“ auf den Markt kamen und lange mit Kinderkrankheiten kämpften. Auch lief bei der Kalkulation etwas schief, sodass MV, trotz massiv gesteigerten Absätzen, rote Zahlen schrieb.
Kurz vor dem Kollaps trat dann der russische Investor Timur Sardarov als Retter der italienischen Traditionsfirma auf den Plan und kündete an, sich fortan wieder auf den Premium-Sektor konzentrieren zu wollen. So wurde an der vergangenen EICMA denn beispielsweise auch die sündhaft teure Brutale 1000 Serie Oro angekündigt. Ein klarer Schritt zurück ins hochpreisige Premium-Segment. Auch die Superveloce 800 – auch sie ist im sehr teuren Premium-Segment angesiedelt – sorgte für viel Aufregung, zuerst in positiver Form als wahrer Hingucker an der EICMA, kürzlich etwas negativer aufgrund eines provokanten Werbespots.
Kehrtwende?
Die Italiener schienen den Worten also Taten folgen zu lassen. Schluss mit Bikes für Jedermann und zurück zum Ultra-Premium für die Gutbetuchten. Und nun kündet MV Agusta eine neue, langjährige Partnerschaft mit dem chinesischen Zweiradgiganten Loncin an. Also doch nichts mit „zurück zum Premium“, dafür jetzt „ab nach Billig-China-Bikes“?
Zusammen mit Loncin soll eine Palette an 350 ccm bis 500 ccm grossen Motorrädern für den chinesischen und asiatischen Markt entstehen. Die kleinen MVs werden dabei laut Pressemitteilung komplett durch MV Agusta designed und von Loncin gebaut und vertrieben. Sie sollen dabei die „MV-DNA“ in sich tragen und der Zitat: „einzigartige Sound sowie die einzigartige Fahrdynamik von MV Agusta“ sollen Verbindungen zu neuen Kundengruppen sichern. Die „China-MVs“ sollen laut der Mitteilung schon 2021 zu kaufen sein.
Doch die Partnerschaft umfasst noch mehr als die MVs mit kleinem Hubraum: So soll MV Agusta helfen, eine neue Premium-Palette an 800 ccm grossen Motorrädern für Loncins „Premium“-Marke Voge zu entwickeln. Dadurch wollen die beiden Firmen MVs Erfahrung im Bau von Premium-Bikes und Loncins Produktionskapazität und Marktzugang in China nutzen, um gegenseitig voneinander zu profitieren.
Was soll das Ganze?
Soweit die Geschichte und die Tatsachen. Doch was soll das Ganze denn jetzt? Denn, ohne jetzt abschätzig klingen zu wollen, mit Premium haben 500er-China-Bikes herzlich wenig zu tun. Ich gehe davon aus – und das ist eine persönliche Einschätzung, basierend auf Erfahrung und nicht auf empirischen Methoden – , dass der „echte“ Deal in etwa so aussieht: MV Agusta schickt ein, zwei Designer nach China, die bestehende Loncin-Plattformen mit 350 – 500 ccm so umdesignen, dass sie zumindest ansatzweise als MVs durchgehen.
Anschliessend baut und vertreibt Loncin diese Motorräder in China und im weiteren asiatischen Markt und gibt MV Agusta einen Teil des Gewinns ab. Die Chinesen nutzen den bekannten Markennamen und MVs Design-Know-how und MV Agusta steigert ohne grossen Aufwand seinen Absatz. Dafür will Loncin aber mehr als einfach nur etwas mehr Einnahmen durch den Verkauf dieser Mini-MVs. Und da kommt die 800er-Voge-Modellreihe ins Spiel. Ich gehe davon aus, dass MV Loncin dazu den – übrigens hervorragenden – 800er-Tripple, oder zumindest ein darauf basierendes Aggregat, verkauft und beim Design mitwirkt.
Viel steht auf dem Spiel
Wie gesagt, das sind Spekulationen, doch sie gründen auf logischen Überlegungen. Loncin hat – wie die meisten chinesischen Riesen-Firmen, weder Liquiditäts- noch Produktions- noch Vertriebs-Probleme. Aber es fehlt (noch) an Know-how. Beide machen also was sie können: MV verkauft Name und Know-how für mehr Absatz und Profit.
Das muss grundsätzlich nichts schlechtes sein, wobei ich Loncin hier klar am längeren Hebel sehe. Denn die Chinesen haben nichts zu verlieren, ausser vielleicht ein paar Yuan, falls die kleine MV-Reihe ein totaler Flop werden sollte. Für MV Agusta steht indessen viel mehr auf dem Spiel: der Name. Und der ist ja gerade im Premium-Segment durchaus elementar.
Was meint ihr: Clevere Strategie, um schnell Geld zu machen, oder der Anfang vom Ende?
Übrigens: Ich bin durchaus kein MV-Hasser, eher im Gegenteil. Denn ich besitze selbst eine Brutale 800, die ich, trotz ihrer kleinen Macken, fest in mein Herz geschlossen habe.