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die echte & die erbin

Für etwas weniger – Suzuki SV 650 X – oder etwas mehr – Yamaha XSR 700 – als 8000 Franken gibt es bereits einen vollwertigen Töff mit Retro-Charme. Der grosse Unterschied: Die XSR 700 ist bis zum letzten LED-Lämpchen ein Kind der Neuzeit, während die SV-X technisch zwei Jahrzehnte auf dem Buckel hat.

Unfassbar, aber wahr: Die mausgraue Flunder namens SV 650 X war die einzige Neuheit, die Suzuki für den Modelljahrgang 2018 vom Stapel liess, zum Leidwesen der Fans und der bereits in den Vorjahren nicht gerade mit einer Neuheitenflut verwöhnten Händlerschaft.Damit nicht genug: Auch die SV 650 X war und ist alles andere als eine echte Neue. Bereits anno 1999 brachte ­Suzuki die SV 650 auf den Markt, und zwar in einer nackten Version N sowie in einer Version S mit Lenkerstummeln und Halbschalen-Verkleidung im Stil der vom Markt nicht besonders ­erfolgreich aufgenommenen TL 1000 S/R. Die X ist also eine direkte Nachfolgerin der S, zumal die nackte SV 650 immer noch im Programm geführt wird. Also alles wie gehabt?Ja und nein. Motortechnisch ist in den vergangenen 20 SV-Jahren mehr oder weniger nichts passiert. Zum Glück, muss man hier einschieben, denn der 90 -V2 mit 645 cm3, je zwei obenliegenden Nockenwellen und Vierventiltechnik galt von Beginn an als einer der besten und kultiviertesten Antriebe der Mittelklasse. Kein Wunder, hat ihn Suzuki auch für die Reiseenduro V-Strom 650 verwendet, und andere Hersteller wie etwa Cagiva bei der Raptor 650 haben diesen gelungenen Motor in eigene Fahrwerke implantiert. Die wichtigste Verbesserung war 2003 die Einführung einer Einspritzung statt des Vergasers, dazu gab’s ein elektronisches Motormanagement, und die Leistung wurde von 71 auf 76 PS angehoben.Mehr ging beim Fahrwerk: Ab Modelljahrgang 2017 wurde der SV 650-Rahmen aus Aluminium-Geflecht durch einen Stahl-Gitterrohrrahmen ersetzt. Die neue X hat im Unterschied zur Standard-SV eine knapp gepolsterte, zweifarbig abgesteppte Sitzbank, ein Mikro-Cockpit-Häubchen für den angesagten Cafe-Racer-Look und dazu passende, aber hoch angesetzte Len­kerstummel. Und natürlich eine trendige graue Farbgebung. Die auf den Bildern sichtbaren, frechen Nebellämpchen stammen aus der Zubehör-Abteilung (CHF 499.– für beide zusammen).

XSR 700: Individualisierung bis zum Abwinken

Apropos Zubehör: Während für die Suzuki ab Werk nur ein paar weniges Accessoires lieferbar sind, kann ihre Gegnerin Yamaha XSR 700 bis zum Abwinken nachgerüstet werden. Wie bei den diversen MT-Verwandten hat Yamaha der Individualisierung sehr viel Gewicht beigemessen. Das Angebot reicht von anderen Sitzbänken, Stoff-Seitentaschen, Schalldämpfern, Kühlerabdeckungen, Nummerntafeln, zusätzlichen Verkleidungsteilen bis zu Handschützern und einer Unmenge von Kleinteilen. Yamaha hat sogar ­extra den Heckrahmen nicht mit dem Hauptrahmen verschweisst, sondern nur verschraubt, damit auf den Zubehör-Solositz umgebaut werden kann.Bleiben wir noch etwas beim XSR-Design. Yamaha spricht zwar gerne und vollmundig von «Heritage» und gewollten Ähnlichkeiten mit der legendären XS 650, die von 1969 bis 1984 gebaut wurde, aber selbst positiv denkende XS-Kenner finden an der modernen XSR keine einzige Schraube, die sie an die XS, Gott hab sie selig, erinnern würde.Tatsache ist, dass nichts an der XSR älter ist als vier Jahre, denn 2014 wurde die technisch praktisch identische Schwester MT-07 geboren, eines der am Markt erfolgreichsten Motorräder aller Zeiten.Na ja, immerhin zwei Dinge hat die XSR aber vom Dinosaurier XS geerbt: erstens steht auf dem Tank Yamaha drauf und zweitens empfängt sie ihren Reiter mit einer locker-lässig-aufrechten Sitzposition. Und damit wären wir beim Fahren angelangt.

Sitzen: Zwei Welten

Also aufsitzen. Ich kriege zuerst die Suzuki, die mich in eine – heute zumindest bei neuen Strassentöff kaum noch verwendete – Racer-Haltung zwingt. Der Kniewinkel ist zwar moderat und der Knieschluss am Tank perfekt, aber der Oberkörper wird wie früher bei allen Sportmotorrädern weit über den Tank gespannt. Hilfreich gegen Nackenverspannungen, eingeschlafene Finger und schmerzende Handgelenke sind immerhin zwei Dinge: Erstens sind die Lenkerstummel sehr hoch und in ergonomisch angenehmem Winkel montiert, und zweitens bin ich 180 cm gross, was mir im Vergleich zu einem 160-cm-Girl Vorteile verschafft. Kleingewachsene kommen zwar dank nur 790 mm Sitzhöhe mit den Füssen satt auf den Boden, aber nach vorn müssen sie sich heftig zum Lenker strecken. Erschwerend hinzu kommt der sehr geringe Lenkeinschlag der SV-X, der Wenden und Manövrieren trotz nur 198 kg Kampfgewicht in Stress ausarten lassen kann.Etwas neidisch blicke ich zum Kollegen rüber, der locker-flockig und vor allem mit bolzengeradem Rücken auf der Yamaha XSR 700 hockt. Ohne wie ich den Kopf ständig in den Nacken zu drücken, hat er von oben herab den totalen Überblick. Seine Hände liegen entspannt auf dem im Vergleich zur Basis-MT-07 breiteren und höher montierten Lenker, die 815 mm Sitzhöhe sind dank schmalem Sattel auch für kleinere Personen kein Problem. Der grosse Lenkeinschlag und der breite Lenker machen Rangieren und Parkieren mit der XSR 700 auch für Anfänger zum Kinderspiel.Beim Blick ins Cockpit macht die SV 650 X wieder Punkte gut. Das von Suzuki bei fast allen Modellen inklusive GSX-S 1000 verwendete LC-Display wirkt zwar etwas bieder, bietet aber alle notwendigen Infos – inklusive Ganganzeige, übersichtlich und mit genügend grossen Ziffern. Nur bei starker Sonneneinstrahlung – und das hatten wir diesen Sommer fast immer – ist die Lesbarkeit eingeschränkt.Auch das schnuckelige Rundinstrument der XSR 700 ist nicht blendfrei, aber bei ihr spielt das nicht so eine Rolle, weil man darin ausser der Tempo- und der Gang-Anzeige beim Fahren eh nichts erkennen kann. Die Angaben sind einfach zu klein. Für die Ziffern des Drehzahlmessers würden selbst Adler eine Lupe brauchen.

Viel Motor für sehr wenig Geld

Mein Tipp an Yamaha: Die Drehzahl-Info gleich ganz weglassen, denn der brillante Motor liefert von ganz unten bis ganz oben verwertbare und auch von Einsteigern kontrollierbare Leistung. Der unverändert von der MT-07 übernommene Paralleltwin mit 270  Hubzapfenversatz, Vierventiltechnik und zwei obenliegenden Nockenwellen glänzt mit Kraft in allen Lagen, lässt sich auch in hohen Gängen fast ab Standgasdrehzahl elastisch aus den Kurven ziehen, erfreut mit füllig-knurrigem Sound und geht überaus sanft ans Gas. Die 75 PS reichen locker, um im Kurvengeflecht mit den «Grossen» mitzuhalten; und wenn’s ganz eng wird, zeigt man mit dem 8000-Fränkli-­Hobel den Dicken sogar die lange Nase. Deutlich spürbare Vibrationen gibt’s konzeptbedingt ab Drehzahlmitte, daran können auch die Ausgleichswelle und die Lagerung des Twins in Silentblocks nichts ändern. Aber ein Autobahn- und Langstreckentöff will die XSR 700 sowieso nicht sein.Dann folgt die Sensation: Der zwei Jahrzehnte alte Suzuki-V2 stiehlt dem topmodernen, vielgelobten XSR-Reihenzweizylinder locker die Show. Denn der 90 -V2 schüttelt seine 76 PS scheinbar anstrengungslos und oben herum überraschend feurig aus den beiden Zylindern, die ebenfalls mit Vierventiltechnik und je zwei obenliegende Nockenwellen ausgestattet sind. Hinzu kommen eine äusserst weiche Gasannahme, eine quirlige Drehfreude und ein wunderbar sonorer Polter-Sound. Die Kupplung ist sauber und ohne viel Handkraft zu betätigen, und die sechs Gänge flutschen geräuschlos rein und raus.Hinzu kommen zwei elektronische Gimmicks, die vor allem Einsteigern das Leben erleichtern. Das «Easy Start System» ermöglicht das Starten des V2 auf kurzen Knopfdruck, der Daumen muss nicht auf dem Schalter bleiben. Wer’s trotzdem tut, merkt keinen Unterschied. Und das «Low RPM ­Assist» hebt die Drehzahl via Leerlauf-Kontrollsystem beim Anfahren leicht an, um das Abwürgen des Motors zu verhindern. Profis mögen jetzt die Nase rümpfen, aber auch sie haben irgendwann mal klein angefangen.Insgesamt passt der SV-X-Motor hervorragend zum Cafe-Racer- und Retro-­Charakter der Suzuki. Nie wirkt er überfordert oder angestrengt, nie nervt er mit ungehobelten Manieren. Ich wage sogar zu behaupten, dass ein gewisser Teil der Retro-Kundschaft, die vorwiegend solo unterwegs ist, mit diesem einfach zu handhabenden, extrem ausgewogenen und charakter­starken Triebwerk glücklicher wäre als mit den +100 PS starken Dampf­zentralen etwa einer BMW R nineT oder Triumph Thruxton 1200 R.Wie auch immer: Die Motorenwertung gewinnt – auf einem angesichts der Verkaufspreise sensationell hohen Niveau – knapp die Suzuki, während die Yamaha die Stadt- und Alltagswertung dank der wesentlich bequemeren Sitzpostion und der insgesamt besseren Ergonomie klar für sich entscheidet.

Komfort statt Racing

Ab auf die Landstrasse zum Fahrwerkstest. Bei zügiger Fahrweise zeigt erstmals die Racing-Sitzhaltung auf der Suzuki SV 650 X ihre Vorzüge. Dank ordentlich Last auf dem Vorderrad lässt sich mit ihr wunderbar klassisches Sportfahren zelebrieren. Der verhältnismässig schmale 160er-Reifen auf dem Hinterrad und der für die Grösse des Motorrads satte Radstand von 1445 Millimetern verleihen ihr Stabilität, Lenkpräzision und kinderleichtes Abwinkeln. Elegantes und flüssiges Kurvenwedeln ohne Hektik ist die Paradedisziplin der Suzuki, was wie beim Motor hervorragend zum ­Cafe-Racer-Charme passt. Kurz: Die Suzuki SV 650 X sieht nicht nur aus wie ein Cafe Racer von anno dazumal, sie IST auch einer!Auch die Bremsen (vorn Doppelscheibe mit Doppelkolbenzangen) machen brav mit: einigermassen klarer Druckpunkt, nicht zu kurzer Dosierweg und packen bei Bedarf auf kräftigen Fingerdruck heftig zu.Die Grenzen setzen, wie bei diesem Dumpingpreis nicht anders zu erwarten, die auf Komfort ausgelegten Federelemente. Beim harten Anbremsen und auf holprigem Untergrund ist die Telegabel bei zügiger Gangart bald einmal am Ende ihres Lateins, auch wenn man mit den Einstellschräubchen für die Dämpfung oben an den Gabelholmen das Ganze etwas mildern kann. Auch hinten ist die Dämpfung nicht für volle Attacke, sondern maximal für flottes Landstrassenwedeln ausgelegt.Ähnliches gilt für die Yamaha XSR 700. Ihre auf Komfort ausgelegten Dämpfungselemente bringen auf schlechtem Grund und bei sehr zügigem Tempo insbesondere die Heckpartie ins Schaukeln. Aber zum wirklich schnell Fahren wurden weder die Yamaha noch die Suzuki gebaut.Mit dem breiten 180er-Schluffen auf dem Hinterrad, dem um 40 Millimeter kürzeren Radstand und dem breiteren Lenker fährt sich die Yamaha nicht wie ein Cafe Racer oder sonst ein Retro-​Töff aus dem vergangenen Jahrtausend, sondern wie ein ganz normaler, moderner Strassentöff Baujahr 2018. Die XSR 700 lenkt etwas weniger präzis ein, sie fährt etwas weniger stoisch geradeaus, und sie umrundet die Biegungen etwas weniger elegant als die Suzuki. Aber sie ist deutlich agiler, sie reagiert ohne Verzögerung auf die geringsten Impulse und sie macht das Umrunden von Kanaldeckeln und glitschigen Fussgängerstreifen auch für Einsteiger zum Kinderspiel. Die aufrechte Sitzposition ermöglicht eine hervorragende Übersicht über die Geschehnisse auf und neben der Strasse, was vor allem in der Stadt grosse Vorteile und Sicherheit mit sich bringt. Auch bei den Bremsen – dieselben wie sie die MT-07 zieren – sammelt die Yamaha mit ihren Vierkolbenzangen im Vorderrad, die mehr Biss und einen klareren Druckpunkt bieten, ein paar Zusatzpunkte.

Keulen und Sammler

Dass die Konstrukteure angesichts der angepeilten Verkaufspreise um die 8000 Franken irgendwo den Rotstift ansetzen mussten, liegt auf der Hand. Bei der Suzuki erkennt man die Sparbemühungen etwa am schwarz lackierten Endschalldämpfer im blechigen Keulendesign und der gerade geführten, lieblos gedengelten Stahl-Kastenschwinge. Dafür hält sich bei ihr im Unterschied zur Yamaha die Verwendung von Plastik in engen Grenzen.Bei der XSR 700 würde der unter dem Motor liegende Vorschalldämpfer ­jeden Schönheitswettbewerb auf dem letzten Platz beenden, immerhin findet sich im hausinternen Nachrüst­regal (Akrapovic-)Ersatz. Auch die Plastik-Abdeckungen im unteren Rahmentrumm sind keine Augenweide, sie stehen in krassem Gegensatz zum sorgfältig abgesteppten Zweifarbensattel und dem stilvollen, runden LED-Rücklicht auf dem geschwungenen Heckfender.Fassen wir zum Schluss das Ganze zusammen: Wer einen stilechten, bezahlbaren und im klassischen Sinn aufgebauten Cafe Racer sucht, die/der kann mit der Suzuki SV 650 X glücklich werden. Wer sich einen ebenso bezahlbaren, aber urban orientierten und im trendigen Retro-Röckli daherrollenden, unkomplizierten Allrounder wünscht, muss wohl eher die Yamaha XSR 700 in die engere Wahl einbeziehen. Leistung und Drehmoment(gemessen auf Dynojet-Prüfstand, alle Leistungswerte am Hinterrad)Suzuki SV 650 X75,8 PS bei 8600/min64,4 Nm bei 8100/minYamaha XSR 70074,5 PS bei 8900/min67,9 Nm bei 6500/min 

Text: Tobias Kloetzli/Markus LehnerEdit: Désirée Troxler  

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