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Test: Kawasaki Versys 1100 SE

Kawasaki Versys 1100

Seit 12 Jahren wird die Einliter-Versys inzwischen gebaut. 2015 wurde sie erstmals richtig aufgehübscht, und 2018 kam parallel zum aggressiven Sugomi-Design das adaptive Showa-Fahrwerk beim SE-Spitzenmodell. Für 2025 gibt‘s mit der Kawasaki Versys 1100 nun mehr Hubraum und damit mehr Power.

Nein, die Versys 1000 ist nicht als extravagantes Premium-Reisemotorrad der Oberklasse bekannt. Vielmehr kennen wir sie als unermüdlichen, technisch ausgereiften und im Unterhalt preiswerten Crossover-Töff, der – sauber verarbeitet – für faires Geld zu haben ist. Während die grossen Adventures vom Schlag einer GS, Multistrada oder Super Adventure auch klar den Offroad-Einsatz ins Pflichtenheft aufnehmen, verzichtet das «Versatile System» von Kawasaki seit je her bewusst auf dieses Einsatzfeld und rollt entsprechend auf 17-Zöllern an.

 

Versys 1100: Mehr Katapult ab der Mitte

Mit der Versys zielt Kawasaki seit je her primär auf den europäischen Markt, wo rund 75 Prozent des Absatzes generiert werden – vornehmlich übrigens in Frankreich und Deutschland. Wobei im EU-Raum durchgeführte Kundenbefragungen bei der Versys 1000 ein klares Defizit zutage brachten: da ist bzw. war unten und in der Mitte zu wenig Zunder im Brennraum.

 

Kawasaki Versys 1100

Die S und die SE wird es in Weiss-Schwarz-Gold und in Schwarz-Grau-Grün geben. Noch im Jahr 2024 ab rund 16’000 (S) bzw. rund 18’000 Franken (SE).

 

Und so hat Akashi reagiert und für den 2025er-Jahrgang den Hubraum von 1043 auf 1099 ccm gebracht. Geschehen ist dies durch eine Steigerung des Hubs um 3 mm. Zu den flankierenden Massnahmen zählen: die Erhöhung des Verdichtungsverhältnisses von 10.8 auf neu 11.3, die Implementierung neuer Steuerzeiten, die Reduktion des Ventilhubs und die Neugestaltung der Einlasskanäle sowie der Ansaugtrichter, wobei die mittleren zwei nun 45 mm länger sind als die beiden Äusseren. Weiter kommt ein Schwungrad mit mehr Masse zum Einsatz, und die Einführung eines Ölkühlers soll eine bessere Thermik herbeiführen.

 

Nicht nur mehr Power

Alle diese Massnahmen haben nur einen Zweck: sie sollen – insbesondere in der Mitte – bei besserer Fahrbarkeit mehr Leistung und Drehmoment herbeiführen. Bei gleichbleibender Standfestigkeit des Reihenvierzylinders versteht sich. Und so generiert der Sechzehnventiler neu 135 statt 120 PS, während das Drehmoment von 102 auf 112 Nm angestiegen ist. Wobei die Prüfstandkurven für Leistung und Drehmoment der 1100er jene der 1000er ab der Drehzahlmitte tatsächlich bis in den Begrenzer durchgehend unter sich begraben.

 

Kawasaki Versys 1100

1099 statt 1043 ccm und 135 statt 125 PS. Auch die Getriebeabstufung des Reihenvierzylinders wurde angepasst.

 

Die Implementierung von Euro5+ machte die Einführung einer zweiten Lambdasonde sowie einer zusätzlichen Katalysator-Kartusche erforderlich. Und abschliessend wurde der bidirektionale Quickshifter neu so ausgelegt, dass er nicht mehr erst ab 2500/min, sondern bereits ab 1500/min arbeitet.

 

Zwei Modelle, sechs Varianten

Drei Versionen wird es von der Versys 1100 geben, wobei zwei davon noch im 2024 in der Schweiz verfügbar sein werden: Die hochwertigere S-Variante (ab rund 16’000 Franken) und das SE-Spitzenmodell (ab rund 18’000 Franken). Gegenüber der nicht in die Schweiz importieren Basis verfügt die S serienmässig über

 

  • den grossen, stufenlos verstellbaren Windschild
  • die integrierten Riding-Modes «Rain», «Road», «Sport» und «User»
  • das TFT-Display
  • die Smartphone-Connectivity mit Sprachsteuerung
  • das LED-Kurvenlicht
  • die Griffheizung sowie die Handschützer

 

Bei SE-Modell kommt zu all dem das adaptive Fahrwerk hinzu.

 

Und von der S und der SE wird es noch je zwei quasi ab Werk mit Zubehör versehene Editions geben: Die Tourer (rund 1100 Franken Aufpreis) kommt mit 28-l-Seitenkoffern in Fahrzeugfarbe und «One key system», Innentaschen und Tankpad. Die Grand Tourer (Aufpreis rund 2600 Franken) rollt dagegen zusätzlich mit Crashpads, Nebelscheinwerfern, 48-l-Topcase in Fahrzeugfarbe mit Rückenpolster sowie Navi-Halterung an.

 

56 Kubik, grosse Wirkung

Und wie fährt sie sich nun, die neue Versys 1100? Um diese Frage beantworten zu können, sind wir ins Hinterland von Barcelona gereist, wo wir das SE-Modell auf einer 250-km-Runde ausgeführt haben. Stadt, Autobahn und Pässe mit Kurven aller erdenklichen Couleur standen bei milden Temperaturen und der einen oder anderen Regenpassage auf dem Programm. Perfekte Testbedingungen also …

 

Kawasaki Versys 1100

 

Das Hubraumplus erweist sich definitiv als grosser Gewinn; die Versys 1100 bietet spürbar mehr Druck speziell um 4000/min, wo man sie am häufigsten bewegt. Sie wurde durchzugsstärker, bietet mehr Überholprestige und kann nun schaltfauler gefahren werden. Und das ist gut so, denn man will die Versys nur widerwillig im oberen Drehzahldrittel bewegen. Das geht zwar – wenn man denn will – sehr gut, und der Schub manifestiert sich dabei weiter linear, beeindruckend-fulminant und turbinenhaft, aber es wirkt irgendwie nicht richtig. Ein grosses Tourenmotorrad vom Format einer Versys nach Superbike-WM-Manier hochzudrehen, das fühlt sich mit aktiviertem «Touring mindset» irgendwie stressig an.

 

Die Versys 1100 im Sport-Modus

Es sei denn, man zappt in den Sport-Modus und sucht bewusst den sportlichen Kick, den die Versys auf Wunsch definitiv bietet. Im Normalfall wird man aber früh schalten und das neue Drehmoment-Plus auskosten. Man darf hier allerdings nicht den katapultartigen Antritt eines in puncto Hubraum vergleichbaren V- oder Boxer-Twin erwarten. Es geht schon mächtig und gewinnbringend vorwärts – im Vergleich zur Vorgängerin sogar ganz eindeutig –, aber der Reihenviererzylinder wird konzeptbedingt immer ein drehzahlorientierter Motor bleiben. Wenngleich das Kawasaki-Kraftwerk in dieser Gattung inzwischen klar zu den druckvollsten gezählt werden darf.

 

Kawasaki Versys 1100

 

Die IMU-Traktionskontrolle musste in nassen Passagen übrigens das eine oder andere Mal intervenieren, machte dies mit viel Kompetenz und führte so zu viel Vertrauen, was übrigens auch für das Kurven-ABS gilt. Doch zu den Bremsen später mehr.

 

Vibrationen ja, aber…

Der bidirektionale Quickshifter ist ein Gedicht, lässt sich mit wenig Kraft präzis und mit klarem Einrast-Feedback bedienen. Und jetzt, da er bereits ab 1500/min arbeitet, muss man sich auch keine Gedanken mehr machen, denn man bewegt diesen seidenfeinen Antrieb mit rauchiger Sound-Note eigentlich immer über diesem Bereich.

 

Seine Ansprache ist immerzu vorbildlich sanft – auch bei hohen Touren. Wobei im Sport-Modus diesbezüglich schon etwas mehr Würze beigemischt wird. Einziger Kritikpunkt dieses praktisch zur Perfektion entwickelten Kraftwürfels sind die hochfrequenten Vibrationen bei Stiefeln und Gesäss um 6000/min. Die haben uns allerdings insofern kaum gestört, als man die Versys ohnehin vorzugsweise unter dieser Marke fährt.

 

Vertrauen im Winkelwerk

Bei der Geometrie und der Abstimmung der Federelemente hat Kawasaki definitiv ins Schwarze getroffen. Es ist schon erstaunlich, wie leichtfüssig und harmonisch sich die fahrfertig doch 259 Kilo schwere Versys (plus 2 kg) durch alle erdenklichen Kurvenradien zirkeln lässt. Der Mix aus Handling und Stabilität lässt sich als süffig umschreiben, wobei die Grüne eher auf der flinken, denn auf der stabilen Seite des Spektrums anzusiedeln ist. Es mag am motorseitig etwas höher gelegenen Schwerpunkt liegen, dass die neue Versys am Kurveneingang etwas lebhafter wirkt und – wenn –, dann sicher eher über- als untersteuert. Aber mit etwas Eingewöhnung und dem entsprechenden Fingerspitzengefühl, passt alles prima.

 

 

Die Fahrwerksmodi der SE sind nach wie vor in die Riding Modes implementiert, sprich, switcht man den Modus (auch während der Fahrt möglich), wird automatisch die entsprechende Fahrwerkseinstellung eingedreht. So ist etwa das Umschalten von Road auf Sport nicht nur bei der spritzigeren Ansprache des Sechzehnventilers spürbar, sondern auch an der strafferen Dämpfung, die zu weniger Bewegung im Fahrwerk führt. Wogegen im Rain-Modus alles etwas softer und die Leistungsabgabe auf 75 Prozent der Nennleistung reduziert wird.

 

Alles in allem haben wir es hier mit einem ausgesprochen kompetenten und vielseitig einsetzbaren Fahrwerk zu tun, das den Bogen mit Bravour von Komfort-Touring bis Rastenkratzen spannt. Das Feedback gibt sich dabei ausgesprochen transparent, was in der Summe zu viel Vertrauen führt.

 

Flow-Erlebnis auch im Nassen

Die Lenker-Bedienelemente sind alle prima zu erreichen und zu bedienen. Wenngleich – wie auch im hübschen TFT-Display – die Ziffern der Sekundärinformationen wie Odometer, Trip, Aussentemperatur etc. bezüglich Grösse und Ablesbarkeit klar an der unteren Grenze liegen. Völlig unerklärlich ist dagegen das links am Lenker thronende Riesenteil, in dem die USB-C-Buchse untergebracht ist. Und auch der Druckknopf für die optionalen Nebelscheinwerfer tief rechts unter dem Display wirkt mehr als angestaubt. Bei diesen beiden Elementen scheint Kawasaki – im krassen Kontrast zum pfiffigen Sugomi-Design und den filigranen Lenkerarmaturen – in den 1990ern hängengeblieben zu sein.

 

 

Apropos Lenker: Dieser ist sehr breit ausgeführt, was eine hervorragende Kontrolle herbeiführt und zusammen mit dem transparenten und viel Vertrauen vermittelnden Fahrwerk dazu führt, dass sogar bei unserer Regenfahrt nach dem Mittag ein nachhaltiges Flow-Erlebnis aufkommt. Als es dann später auftrocknet, geht dieser süchtig machende Trance-Zustand nahtlos in sportives Kurvenwetzen über. Erstaunlich, wie bunt man es diesbezüglich – auch dank üppig dimensionierter Schräglagenfreiheit – mit der Versys treiben kann, wobei ihr stattliches Gewicht erst in der Bremszone richtig spürbar wird.

 

Rein in die Eisen

Was uns zu den Stoppern der Versys bringt: Die 310-mm-Doppelscheibenanlage wird mit den 259 Kilo spielend fertig, will beim Heizen allerdings schon zünftig angepackt werden. Wobei die Dosierbarkeit absolut keine Wünsche offen lässt und der doch eher schwach definierte Druckpunkt auf die langen Federwege von vorn 150 mm und die Standard-Bremspumpe zurückführen sein dürfte. Einen ernsthaften Abstrich gibt es dafür aber nicht. Auch, weil die von 250 auf 260 mm angewachsene hintere Bremsanlage einen hervorragenden Job macht.

 

Kawasaki Versys 1100

 

Kawasaki Versys 1100: das Fazit

Das Hubraum- bzw. Power-Plus steht der grossen Versys gut zu Gesicht. Endlich kann man sie so fahren, wie es der Instinkt will: mit viel Schub in tiefen und mittleren Drehzahlen. Sie mag keine schillernde Erscheinung sein im blaublütigen Stelzentourer-Segment, aber niemand wird behaupten können, dass die Versys 1100 kein ausgereiftes, standfestes, zweckmässiges, preislich fair positioniertes und spassbringendes Multitalent ist.

 

Info: www.kawasaki.ch

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