Reboot all Systems – der Blick zurück
2011: Eine der schrecklichsten Erlebnisse der TÖFF-Redaktion – eine Honda-Motorradpräsentation im Schatten des totalen Desasters.
Südspanien 11.März. In Japan schüttelt sich die Erde. Eine über zehn Meter hohe Flutwelle schlägt an die Küste. Apokalyptische Bilder erwischen uns eiskalt bei den offiziellen Honda-Welt-Präsentationen der neuen CBR-Modelle. Fahren, testen und bewerten, Gespräche mit japanischen Entwicklungsingenieuren, Marketingstrategen und Technikern führen – das ist normalerweise der Alltag für unsTÖFF-Redaktoren bei so einem Event. Doch die TV-Bilder ausradierter Städte und explodierender Kernreaktoren führen der Journalistenschar und den Honda-Offiziellen mit unglaublicher Dramatik vor Augen, was der Mensch wirklich weiss und kann.
Gefühlsstürme und Windrichtungen
«Vruuuum», die CBR600F singt ihr Lied in den sattgrünen Hügeln Andalusiens, als ob nichts wäre. Ich teste den Durchzug des Vierzylinders. Aber lässt es sich angesichts dessen, was sich gerade in Japan ereignet, überhaupt noch zur normalen Tagesordnung übergehen, oder sollte ich genau dies tun? Es fällt mir schwer, meine Gefühlsstürme zu sortieren. Dann biege ich auf die A375 nach Algonales ein. Das 40 Kilometer lange, monotone Teilstück der Testrunde lässt meine Gedanken abschweifen: Zu Hause steht der Frühling vor der Tür, und der Wettermann wird wieder zu meinem wichtigsten Berater für die Planung der anstehenden Touren. Doch was sind das für Zeiten, wo man sich im TV plötzlich mehr für die Windrichtungen im fernen Norden Japans interessiert als fürs heimische Klima?
Glaube keiner Statistik …
Anbrandende Erinnerungen bringen mich vollends aus der Balance: Schon vor 25 Jahren begann man sich abrupt und in sämtlichen Medien für die Wetterbedingungen eines 2000 Kilometer entfernten Landes zu interessieren. Nicht etwa, weil ich einen Motorradurlaub dorthin geplant hatte – nein, Grund war dasselbe Szenario wie heute: eine entsetzliche Katastrophe in der Ukraine. Studium, Freundin oder Störfall? Die Liebe zum Motorradfahren war mir damals wie heute dennoch nicht auszutreiben. Schliesslich hatte man sich ja den ganzen kalten und dunklen Winter darauf gefreut, endlich mit dem Bock auf Tour zu gehen. Nun war der Frühling da. Also Lederkombi übergestreift und durch. Auch weil es ja immer hiess, so ein Super-GAU – ja der konnte laut Statistik nur alle 10000 Jahre stattfinden –, sowas passiert nicht. Was wir erst Tage später erfuhren: In Tschernobyl ist es passiert. Am 26. April 1986.
G(r)AU ist alle Theorie …
Three Mile Island,Tschernobyl und nun Japan. Fukushima ist bereits die dritte Reaktorkatastrophe während meiner Lebensspanne… In Physik nahmen wir also vor gefühlten 30 000 Jahren zufällig gerade Quanten- undAtomphysik durch. Mit nur einem Kilo angereichertem Uran – so erfuhren wir – kann man dieselbe Menge Energie erzeugen, wie mit 50 randvoll gefüllten Güterwagen Kohle. Beeindruckend! Das sind 3000 Tonnen. Nicht gelernt haben wir, dass der andere Kernbrennstoff, das Plutonium, nach Pluto, dem römischen Gott des Todes, benannt ist. Über die Halbwertszeit von Plutonium 239 wusste ich dagegen Bescheid: 24 000 Jahre. Und dass das Zeug chemisch ausserordentlich reaktionsfreudig und für Lebewesen extrem giftig ist auch. Doch zurück zum Motorrad-Saisonbeginn 1986:
Fatal Error
Radioaktive Stoffe wurden durch einen brennenden Reaktorkern in weiter Ferne in Höhen von mehr als zwei Kilometern über dem havarierten Kraftwerk getragen. Die strahlende Wolke zog zunächst nach Skandinavien, dann breitete sie sichüber meinem ersehnten Frühling aus. Besonders südlich der Donau verseuchte der Fallout grosse Gebiete mit dem langlebigen Cäsium 137. Und mitten im Schlamassel ein töffbegeisterter Jugendlicher, der sein Hobby nicht sein lassen konnte. Denn im zarten Alter von 2 2wollte man ja eigentlich gar nichts von ernsten Sachen wissen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich auf einer Tour durch Süddeutschland im Nebel gefahren bin. An und für sich an den Ufern der Donau nichts Besonderes im April. Aber dieses Mal hatte ich ein mulmiges Gefühl, wollte anders als sonst so schnell wie möglich aus dem Flusstal hinaus. Dieser Nebel war mir unheimlich. Zu Recht! Er war radioaktiv. Versetzt mit Isotopen aus Tschernobyl, Jod-131, Tellur-132 und Cäsium 137. Besonders problematisch war der Regenschauer, der mich irgendwann zwischen dem 30.April und dem 5.Mai 1986 auf der Landstrasse erwischte. Die Regenkombi hielt mich dieses Mal nicht nur trocken, sie brachte mich wegen des Fallouts sogar ohne Aussicht auf Sonnenschein zum Strahlen. Damals habe ich im Physiklabor Messungen vorgenommen, um die radioaktive Kontaminierung auf der Plastikpelle zu ermitteln. Sie war nicht gefährlich hoch, aber deutlich messbar. «Kutschke, Sie fahren ja sowieso immer sinnlos mit ihrem Motorrad herum, machen Sie dabei mal etwas Nützliches», sagte mein Prof und drückte mir einen portablen Geigerzähler in die Hand, der schnell einen angestammten Platz in meinem Harro-Tankrucksack fand. So bewaffnet fuhr ich wochenlang durch die Gegend. Ja, ich gebe es zu, wie alle Menschen gewöhnte ich mich viel zu schnell an den Schrecken – manchmal genoss ich es sogar, auf Waldparkplätzen die ahnungslosen und für mich spiessigen Spaziergänger durch das Knacken meines Geigerzählers in Angst und Panik zu versetzen.
All Systems Failure
Man konnte es nicht riechen, nicht sehen. Und dennoch war es da. Es knackte manchmal so heftig, dass ich selbst erschrak: Mein Töffrevier war verstrahlt worden, so viel stand nach meinem freiwilligen Dienst für die Wissenschaft fest. Die Radioaktivität war in Niederschlagsgebieten bis zu dreimal höher als an Orten, wo es nicht geregnet hatte. Auch als die Sonne prall und satt vom stahlblauen Himmel schien, war der Frühling nicht mehr derselbe. Wie genial ist es doch, auf einer Motorradtour zu pausieren und an den Ufern eines Baches wegzudösen. Die Behörden rieten damals von derlei Ideen ab: Insbesondere sei geboten, sich nicht ins Gras zu legen. Man hatte in einem Kilogramm Gras einer einzigen Probe Jod-131-Aktivitäten von 10000 Becqerell (10000 Teilchen-Zerfälle pro Sekunde) gemessen. Normalerweise ist das Isotop im Niederschlag gar nicht vorhanden.
Format C:/System
Immer wieder hörte ich von jungen Kollegen, dass Tschernobyl eine alte Kamelle sei, die sie nicht beträfe und die sowieso nur die nähere Umgebung geschädigt habe. Von wegen! Und Japan? Die Kaltherzigen meinen: «Ich habe selbst Probleme genug» und «Ruf doch mal an da, zum Beispiel beim Disneyland… da scheint doch noch alles okay zu sein…» Die Pessimisten sagen: «Gestern standen wir vor dem Abgrund und heute sind wir einen Schritt weiter.» – «Es ist kein Zusammenhang mit meinen Erlebnissen im Frühjahr 1986 herstellbar… », das entgegnen die politisch Korrekten. Und dieTräumer postulieren: «Fukushima wird die Welt zum Positiven verändern, diese Katastrophe wird uns wachrütteln.» Hoffentlich – was noch zu ergänzen wäre. Aber das glaubte ein junger motorradfahrender Student vor 25 Jahren im Fallout Süddeutschlands auch…
Reboot all Systems: Selbst wenn nun bald wieder die «Normalität des GAU-Schreckens» einkehren wird – an der Symbolik der Ereignisse in Japan sollten wir dieses Mal länger arbeiten. Der berühmte englische Historiker Eric Hobsbawm sagte, dass Zeitenwenden nicht mit einem ersten Januar auf dem Kalender beginnen, sondern mit einem Ereignis, indem das ganze Jahrhundert bereits thematisiert ist. Die Katastrophe vonTschernobyl 1986, der Bankencrash 2008 und der Untergang der Ölbohrplattform DeepWater Horizon 2010 waren demselben Systemfehler geschuldet wie das Desaster in Japan –dem verstellten Blick einer technisch, ökonomischen Hybris (griechisch: Selbstüberhebung, Gier) –, einem Wirtschaften, das schon viel zu lange nicht mehr im Dienst der Menschen und im Einklang mit der Natur steht.
Reboot all Systems
Es regnet. Ich stoppe am Strassenrand und zupfe die Regenkombi zurecht… Schuld seien dieses Mal die Naturgewalten, heisst es. Aber warum hat man ihnen als Kraftwerke getarnte Atombomben in den Weg gebaut? Ich muss mich nun schleunigst von den Horrorbildern befreien. Der besteWeg zurück zur geordnetenTagesordnung scheint mir, erst mal das Massband zu zücken und die neue Honda zu vermessen. Danach heisst es, auf den kurvigen Nebenstrecken im Hinterland Sevillas fix um die Ecken biegen. Reboot all Systems im Kleinen – denn die verschärfte Gangart lässt nur noch Platz für Gedanken, die für den Test wichtig sind: für Drehmomentverläufe, Sitzkomfort, Windschutz, Einlenk- und Federungsverhalten, die Bremsen und was sonst noch so auffällt …